Es ist Donnerstagmorgen, 8 Uhr. Im Raum Nummer 522 im ersten Stock der Grundschule am Lülsfelder Weg in Gerolzhofen setzen sich vier Mädchen und acht Jungen auf ihre Plätze. Zwei Stühle im Klassenzimmer bleiben an diesem Tag leer. Alle Kinder stammen aus der Ukraine. Sie sind mit ihren Müttern vor etwa drei Monaten, kurz nachdem russische Truppen ihr Heimatland angegriffen haben, geflohen. In Gerolzhofen haben sie eine Unterkunft gefunden – in Sicherheit. Seit gut einem Monat gehen sie hier auch zur Schule.
Die Kinder besuchen die "Pädagogische Willkommensgruppe", wie auf einem Schild zu lesen steht, das neben der Tür des Klassenzimmers hängt. Daneben ist die blau-gelb gestreifte Flagge der Ukraine abgebildet. Auch die Lehrerin, die die Grundschulkinder unterrichtet, stammt aus dem Land im Osten Europas.
Lehrerin hat seit langem Kontakt nach Wiesentheid
Iryna Nazarova ist kurz nach Kriegsausbruch selbst mit ihren beiden sechs und acht Jahre alten Kindern aus Kiew geflohen. Ihr Mann durfte das Land nicht verlassen. Anfang März kam sie zunächst nach Wiesentheid. Ans dortige Landschulheim war sie im Jahr 1999 als Austauschschülerin gekommen und hält seitdem Kontakt dorthin. Vor drei Jahren, als das Wiesentheider Gymnasium das 20-jährige Bestehen der Schulpartnerschaft mit dem ukrainischen Gymnasium in Nowograd-Wolhynsk feierte, war sie ebenfalls nach Wiesentheid gekommen. Jetzt lebt sie, wie sie erzählt, bei Freunden in Gerolzhofen.
Als Lehrerin für die Willkommensgruppe, die Kinder der ersten bis vierten Jahrgangsstufe besuchen, ist Iryna Nazarova quasi die Idealbesetzung, ein echter Glücksfall, meint auch Rosemarie Baumgärtner vom kommissarischen Leitungsteam der Grundschule Gerolzhofen. Die 38-Jährige Nazarova hat in Kiew Deutsch studiert und dort mehrere Jahre lang als Deutsch-Lehrerin gearbeitet. Nun bringt sie den Kindern, die wie sie geflüchtet sind, in erster Linie Deutsch bei, an fünf Tagen in der Woche. Montag bis Donnerstag geht der Unterricht von 8 bis 12.15 Uhr und am Freitag von 8 bis 11.15 Uhr.
Smileys helfen den Kindern beim Erzählen
"Guten Morgen", begrüßt die Lehrerin die zwölf Kinder auf Deutsch. "Guten Morgen" antworten die Kinder. "Wie geht's dir?" möchte Nazarova von den Mädchen und Jungen wissen. Wer nicht alle passenden deutschen Worte gleich parat hat, kann sich mit Smileys behelfen, die an der Tafel hängen: vom breit grinsenden Smiley, das für "sehr gut" steht, bis zum Smiley, das einen Flunsch zieht und sich "furchtbar" fühlt. Doch diesen beansprucht an diesem Morgen keines der Kinder. Selbst nicht der Junge in der ersten Reihe, dem es augenscheinlich nicht ganz so gut geht.
Wichtigste Aufgabe sei es, den Kindern möglichst viel Deutsch beizubringen, sagt die Lehrerin im Gespräch mit dieser Redaktion. Dies hätten sich die Mütter der Schülerinnen und Schüler so gewünscht. Bis auf drei Jungen, die mit ihren Müttern noch in der Notunterkunft in der Dreifachturnhalle in Gerolzhofen untergebracht sind, wohnen die Kinder der Willkommensgruppe mittlerweile in privaten Wohnungen. Der Gerolzhöfer Helferkreis hatte sie mit dem notwendigen Material für den Unterricht ausgestattet und mitgeholfen, dass die Willkommensgruppe zustande kam.
Im Unterricht geht es locker zu
Die erste Unterrichtsstunde läuft heute locker ab. Die Lehrerin wiederholt mit den Kindern die Namen von Obst. Mit Karten in drei unterschiedlichen Farben müssen die Kinder anzeigen, in welche der drei Gruppen die Gegenstände, die die Lehrerin ihnen auf Deutsch nennt, gehören: Schulsachen, Essen oder Körperteile. Alles läuft flüssig. Auch ein Mitmach-Video aus dem Internet, das Nazarova zwischendurch zur Auflockerung zeigt, vermittelt deutsche Wörter: Kopf, Schulter, Knie, Fuß, Nase. Auch Zahlen gehen den Kindern locker über die Lippen.
Als Besucher wundert man sich, wie schnell die ukrainischen Kinder offenbar Deutsch gelernt haben. Die Lehrerin bestätigt dies: "Die Wörter merken sie sich ganz gut." Am Anfang seien es nur ein paar deutsche Wörter gewesen, die die Kinder gekonnt hätten. Dabei hatten sie bis Ende Mai auch noch Online-Unterricht, den ihre Heimatschulen in der Ukraine trotz des Kriegs weiter angeboten haben.
Ab September folgt der Regelunterricht
In der Ukraine gehen die Sommerferien über drei Monate, ab Juni bis Ende August. Dass sie nach den jetzt begonnenen Pfingstferien nochmals zur Schule müssen, ist für Kinder also neu, sagt die ukrainische Lehrerin. Mit Beginn des kommenden Schuljahres in Bayern im September werden die ukrainischen Kinder hier keine Willkommensgruppen mehr besuchen, sondern den Regelunterricht in regulären Klassen, berichtet Baumgärtner.
Grundsätzlich haben die Kinder bei ihr immer Deutsch, berichtet Nazarova. Einen festen Lehrplan gibt es für den Unterricht der ukrainischen Schülerinnen und Schüler nicht. Doch fünf Stunden am Tag eine Fremdsprache lernen – das funktioniere natürlich nicht. Deshalb gebe es zwischendurch beispielsweise auch mal Übungsblätter für Mathe, oder Sportunterricht, den die ukrainischen Kinder der Willkommensgruppe zusammen mit regulären Grundschulklassen absolvieren, ergänzt Baumgärtner. Auch gemeinsamer Kunstunterricht fand bereits statt.
Weitere Helfer unterstützten die Willkommensgruppe
An drei Tagen in der Woche unterstützen zudem Lehramtsstudentin Maria Kraus, Erzieherin Sabine Walter und die pensionierte frühere Konrektorin der Schule, Brunhilde Lehmann, die ukrainische Lehrerin stundenweise bei der Betreuung der Kinder. Auch Mütter der ukrainischen Kinder übernehmen immer wieder deren Aufsicht.
"Die Kinder sagen, dass sie gerne zur Schule gehen", erzählt Nazarova. Für die Mädchen und Jungen sei es wichtig, in der Schule zusammenzukommen. "Das ist für sie oft besser, als Zuhause zu sein." Eine wichtige Rolle spielten für sie auch im Klassenzimmer die Farben Blau und Gelb, die Farben ihres Heimatlandes. So hängen an der Wand blaue und gelbe Luftballons. Ein Mädchen trägt an diesem Tag sogar blau-gelbe Schleifen in ihren Zöpfen.
Rechtzeitige Flucht aus dem Kriegsgebiet
Vom Krieg in der Ukraine, von explodierenden Raketen und Bomben, die so viel Leid bringen, haben die Kinder, die sie unterrichtet, zum Glück wenig am eigenen Leib verspürt, sagt Nazarova. Sie sind alle schon kurz nach Kriegsausbruch geflohen. Selbst der eine Junge, der aus Mariupol stammt, hat nicht persönlich miterleben müssen, wie seine Heimatstadt in den vergangenen Wochen vollständig verwüstet wurde. Die anderen Kinder stammen größtenteils aus Kiew, aber auch aus Charkiw.
"Ich spreche den Krieg von mir aus nicht an", sagt die Lehrerin. "Aber die Kinder sprechen untereinander darüber." Immer wieder falle während des Unterrichts auch der Name Putin. Wie in dieser Schulstunde, als die Kinder während eines Spiels ein Kreidemonster an die Tafel zeichnen. Plötzlich sagt ein Junge etwas auf Ukrainisch. Dabei fällt auch der Name des russischen Präsidenten, der dafür verantwortlich ist, dass die Kinder jetzt hier in diesem Klassenzimmer sitzen, 1500 Kilometer weit weg von ihrer Heimat, wo zum Teil noch ihre Väter kämpfen, Familienangehörigen und Freunde leben.
Doch zumindest müssen sie hier vor Putin keine direkte Angst haben. Die Kinder lachen über das Monster an der Tafel.