Wer eine Straftat begangen hat, aber vermindert schuldfähig oder schuldunfähig ist, kann je nach Schwere der Tat in ein psychiatrisches Krankenhaus eingewiesen werden. In der forensischen Psychiatrie findet dann der sogenannte Maßregelvollzug statt. Dr. Notker Zorn ist Facharzt für Psychiatrie und Psychotherapie und seit 2023 Oberarzt in der Forensik in Werneck (Lkr. Schweinfurt). Im Interview erklärt der 39-Jährige, welche Voraussetzungen für die Feststellung einer Schuldunfähigkeit erfüllt sein müssen, wie der Tagesablauf der Patienten aussieht und warum sie in der Forensik keine Strafe absitzen.
Dr. Notker Zorn: Dass die Forensik eine Sicherungsverwahranstalt ist. Aber die Sicherungsverwahrung ist eine andere sogenannte Maßregel der Besserung und Sicherung. Es gibt die Sicherungsverwahrung, das "lebenslange Wegschließen", das findet bei uns nicht statt. Wir sind eine therapeutische Einrichtung, keine Wegschließ-Einrichtung. Es ist nicht das Ziel, die Leute ein Leben lang wegzusperren und zu bestrafen, sondern durch Therapie die Fremdgefährlichkeit zu mindern.
Zorn: Dazu muss man zwei Paragrafen im Strafrecht unterscheiden, nach denen Patienten untergebracht werden: den Paragrafen 63 des Strafgesetzbuchs (StGB) und den Paragrafen 64 StGB. Nach Paragraf 64 werden Patienten behandelt, die einen sogenannten Hang haben, Drogen oder Alkohol zu konsumieren, und die im Zusammenhang mit der Abhängigkeitserkrankung Straftaten begangenen haben. Zusätzlich zu einer Haftstrafe sind diese Patienten zur Maßregel in unserer Klinik verurteilt. Die Patienten, die nach Paragraf 63 untergebracht sind, sind jene, die aufgrund einer psychischen Erkrankung bei Begehung einer Straftat vermindert schuldfähig oder sogar schuldunfähig waren. Sie waren nicht dazu imstande, das Unrecht ihrer Tat einzusehen und nach dieser Einsicht zu handeln.
Zorn: Nein. Es gibt zwei Kriterien, die bei der Beurteilung eine Rolle spielen und die in einer psychiatrischen Begutachtung geklärt werden: Lag zum Tatzeitpunkt eine psychische Erkrankung vor? Und war aufgrund der psychischen Erkrankung zum Tatzeitpunkt die Einsichts- und Steuerungsfähigkeit derart eingeschränkt oder aufgehoben, dass der Betreffende nicht nach besserer Einsicht handeln konnte? Diese beiden Fragen müssen geklärt werden. Jemand kann psychisch krank sein, aber seine Einsichts- und Steuerungsfähigkeit kann bei Begehung einer Straftat dennoch unbeeinträchtigt gewesen sein.
Zorn: Die Sache lässt sich immer nur in der Rückschau klären. Ob überhaupt eine psychische Erkrankung vorliegt, ist leichter festzustellen. Ein demenzielles Syndrom oder eine Intelligenzminderung lassen sich vergleichsweise einfach diagnostizieren. Ob jemand eine Schizophrenie hat, kann ich aus der Krankengeschichte und anhand des aktuellen psychischen Untersuchungsbefundes rekonstruieren. Aber ob das auch zum Tatzeitpunkt eine Rolle gespielt hat und wie stark die Beeinträchtigung gewesen ist – das zu ermitteln ist die große Herausforderung.
Zorn: Nein. Ganz allgemein lässt sich sagen: Je besser ein Patient in der Therapie mitmacht, desto kürzer wird die Zeit sein, welche er im Maßregelvollzug verbringt. "Mitmachen" bedeutet unter anderem: zu akzeptieren, dass man eine psychische Erkrankung hat, Möglichkeiten der Behandlung und Rückfallprävention zu kennen, sich mit seinem Delikt auseinander zu setzen. Ziel unserer Behandlung ist es, die Fremdgefährlichkeit zu mindern und die Wiedereingliederung in die Gesellschaft zu ermöglichen, nicht die Bestrafung des Patienten. Die unterschiedlichen Phasen der Therapie können ganz unterschiedlich lang sein, dabei spielt die psychische Erkrankung ebenso wie die begangene Straftat eher eine untergeordnete Rolle. Ob und wann jemand aus dem Maßregelvollzug entlassen wird, bemisst sich schließlich an seiner Gefährlichkeit, nicht an seiner Schuld.
Zorn: Genau, weil sich die Maßregel an der Gefährlichkeit orientiert. Jemand darf psychisch krank sein, aber er darf keine Gefahr mehr für die Allgemeinheit darstellen. Im Falle einer Unterbringung wegen einer Suchterkrankung ist die Behandlung allerdings begrenzt auf zwei Jahre. In diesen zwei Jahren muss etwas passieren: entweder die Haftstrafe in der JVA oder die Aussetzung zur Bewährung. Wenn sich da abzeichnet, dass die Behandlung nicht aussichtsreich ist, weil jemand nicht kooperieren möchte, kann die Therapie vorzeitig abgebrochen werden. Ist man wegen einer psychischen Erkrankung im Maßregelvollzug, kann die Therapie nicht vorzeitig abgebrochen werden, sie ist zeitlich unbegrenzt.
Zorn: Eine genaue Zahl darf ich nicht nennen, aber so viel: Wir sind eine vergleichsweise kleine Einrichtung. Es gibt in Bayern zwölf Maßregelvollzugseinrichtungen, in denen insgesamt etwa 3000 Personen untergebracht sind, überwiegend Männer. Bei uns sind es nur Männer, und wir behandeln keine Minderjährigen.
Zorn: Bei den sogenannten Hangtätern dominieren Delikte, die in erster Linie mit Betäubungsmitteln zusammenhängen: Beschaffungskriminalität, Erpressung, Bedrohung, Körperverletzung. Bei denjenigen, die psychisch krank sind, haben wir es dann mit Fällen von gefährlicher oder schwerer Körperverletzungen zu tun, mit sexuellem Missbrauch, Brandstiftung und Tötungsdelikten.
Zorn: In der Forensik ist es gut vergleichbar mit dem Tagesprogramm der Akutpsychiatrie. Die nach Paragraf 64 Untergebrachten sind in der Regel normal begabte, junge bis mittelalte Männer, die auch draußen einer üblichen Erwerbstätigkeit nachgegangen und auch entsprechend arbeitsfähig sind. Es gibt Arbeiten in der Ergotherapie, der Metallgestaltung, der Holzwerkstatt und der Gärtnerei, die sie verrichten können. Wir haben verschiedene Therapieanlagen, in denen die Patienten für ein bis drei Stunden oder, wenn sie weiter fortgeschritten sind, auch mal bis zu sechs Stunden arbeiten können. Darüber hinaus haben die Patienten Gruppentherapien, Musiktherapie, seelsorgerische Unterstützung, ärztliche Visiten und psychologische Einzelgespräche.
Zorn: Im 63er-Bereich habe ich es eher zu tun mit Patienten, die diesem Arbeitspensum nicht gewachsen sind, von denen aber dennoch ein geordneter Tagesablauf gefordert wird. Das Tagespensum soll dazu dienen, die Leute sinnvoll zu beschäftigen.
Zorn: Wir haben zwei Bereiche, einen geschlossenen und einen offenen. Offen bedeutet, etwas behaglicher und ohne Sicherungszaun. Und wir haben den gesicherten Bereich, der in seiner Ausstattung einer JVA ähnelt. Da haben wir einige Einbettzimmer, aber ansonsten Dreibettzimmer und einige wenige Vierbettzimmer.
Zorn: Die Patienten durchlaufen sogenannte Lockerungsstufen: 0, A, B, C, D. Mit jeder Lockerungsstufe erhält man ähnlich wie in der JVA ein höheres Maß an Freiheit und auch Verantwortung.
Zorn: Ab der Lockerungsstufe B hat man freien Ausgang auf dem Gelände. Lockerungsstufe A bedeutet begleiteter Ausgang, Lockerungsstufe B bedeutet eigenständiger Ausgang und ab Lockerungsstufe C hat man auch die Möglichkeit einer Tagesbeurlaubung. Patienten in der Lockerungsstufe D können auch einer bezahlten Arbeit außerhalb nachgehen oder in einer sogenannten Probe-Wohneinrichtung oder eigenen Wohnung wohnen.
Zorn: Das Gericht ist dazu verpflichtet, sich in regelmäßigen Abständen, und das bedeutet in der Regel jährlich, ein Urteil darüber zu bilden, wie es dem Patienten geht. Das stützt sich auf Stellungnahmen unserer Klinik, externe Sachverständigengutachten sowie einer persönlichen Anhörung. Auf dieser Grundlage entscheidet das Gericht, ob ein Patient entlassen wird.