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Werneck
"Wir leben in schwierigen Zeiten": Wie Professor Maximilian Gahr in Werneck psychisch Kranken hilft
Von Pandemiefolgen bis Kriegsängste – die Gründe für den Anstieg psychischer Erkrankungen sind vielfältig. Ein Gespräch mit Professor Dr. Maximilian Gahr, dem Ärztlichen Direktor der Psychiatrischen Klinik Werneck.
Die Psychiatrische Klinik Werneck ist kontinuierlich ausgelastet. Ob die psychischen Erkrankungen in der Allgemeinbevölkerung in den letzten Jahren wirklich zugenommen haben, lässt sich aber nicht so einfach bewerten. Daten der gesetzlichen Krankenkassen zeigen jedoch, dass die psychischen Störungen als Grund für Arbeitsunfähigkeit deutlich zugenommen haben.
Foto: Josef Lamber | Die Psychiatrische Klinik Werneck ist kontinuierlich ausgelastet. Ob die psychischen Erkrankungen in der Allgemeinbevölkerung in den letzten Jahren wirklich zugenommen haben, lässt sich aber nicht so einfach bewerten.
Irene Spiegel
 |  aktualisiert: 10.05.2024 02:50 Uhr

Im Schatten des Schlosses Werneck verbirgt sich eine der ältesten psychiatrischen Kliniken des Landes: das Krankenhaus für Psychiatrie, Psychotherapie und Psychosomatische Medizin. Ein Ort, an dem Geschichte und moderne Psychiatrie aufeinandertreffen. König Max II. von Bayern hatte das Schloss Werneck 1855 der Kreisgemeinde Unterfranken zur Errichtung einer "Kreisirrenanstalt" überlassen. Ihr erster Direktor war Bernhard von Gudden, der spätere Leibarzt von König Ludwig II. Heute leitet Professor Dr. Maximilian Gahr, M.A., das Klinikum. Er gilt als Koryphäe seines Faches. Ein Gespräch über den stillen Kampf gegen psychische Erkrankungen.

Frage: Millionen von Menschen in Deutschland sind psychisch krank. Depression, Burnout, Angstattacken – was ist los in unserer Gesellschaft?

Dr. Maximilian Gahr: Gegenwärtig sind wir in Deutschland und auch weltweit mit vielen erheblichen Problemen konfrontiert. Russland führt Krieg gegen die Ukraine, Israel gegen die Hamas, was direkte und indirekte Auswirkungen auf unser Leben hat. In den Jahren 2020 bis 2022 waren wir durch die Coronapandemie belastet gewesen, und aktuell leiden wir unter steigenden Energiekosten, Inflation und einem ausgeprägtem Fachkräftemangel. Von den Auswirkungen des Klimawandels will ich gar nicht sprechen. Wir leben in schwierigen Zeiten, und schwierige Zeiten erhöhen das Risiko für psychische Erkrankungen.

Seit 2022 ist Professor Dr. Maximilian Gahr Ärztlicher Direktor der Psychiatrischen Klinik Werneck.
Foto: Josef Lamber | Seit 2022 ist Professor Dr. Maximilian Gahr Ärztlicher Direktor der Psychiatrischen Klinik Werneck.
Also haben die psychischen Erkrankungen zugenommen?

Gahr: Ob es jetzt wirklich so ist, dass die psychischen Erkrankungen in der Allgemeinbevölkerung in den letzten Jahren wirklich zugenommen haben, lässt sich nicht so einfach bewerten. Gefühlt würden wir alle spontan vermutlich "Ja" sagen, aber aktuell haben wir noch keine belastbaren Daten, die das beweisen. Die Zahlen der gesetzlichen Krankenkassen zeigen jedoch, dass die psychischen Störungen als Grund für Arbeitsunfähigkeit in den letzten Jahren in Deutschland wirklich deutlich zugenommen haben. Und wir haben auch Daten, die zeigen, dass die psychische Belastung für Kinder und Heranwachsende während und seit der Coronazeit zugenommen hat.

Laut Bundesgesundheitsministerium sind Frauen häufiger von depressiven Störungen betroffen als Männer. Warum ist das so?

Gahr: Eine wirklich eindeutige Erklärung gibt es für diesen Befund nicht. Es gibt aber eine Reihe von Hypothesen. Einige sind in den gesellschaftlichen Anforderungen an die Rolle als Frau begründet, andere hängen mit den neurobiologischen und endokrinologischen Faktoren zusammen. Zum Beispiel gibt es bei den Frauen für das Auftreten von zahlreichen psychischen Erkrankungen zwei Altersgipfel. Der erste ist um die Adoleszenz herum, wie bei den Männern, der zweite dann in der Menopause. Man geht davon aus, dass hierfür die hormonellen Veränderungen während der Menopause, insbesondere eine geringere Östrogenproduktion, relevant sind. 

"Wir sind kontinuierlich ausgelastet."
Professor Maximilian Gahr
Studien sagen, dass mehr als die Hälfte der schwer Depressiven unzureichend behandelt wird, weil es zu wenig Therapieplätze gibt. Wie sieht es in der Klinik Werneck aus?

Gahr: Die Inanspruchnahme unserer ambulanten und stationären Versorgungsangebote ist sehr hoch, wir sind kontinuierlich ausgelastet. Das liegt unter anderem daran, dass die meisten Patientinnen und Patienten mit einer psychischen Störung oft nicht ausreichend rasch den für sie passenden Therapieplatz erhalten können. Dann suchen sie verständlicherweise oft direkt den Weg in die Klinik. Oder sie erhalten keine Therapie und werden chronisch krank, sodass eine akute stationäre psychiatrische Therapie erforderlich ist. Dass viele der Menschen mit einer Depression unzureichend behandelt sind, liegt mitunter aber auch an einer oft fehlenden Therapiebereitschaft aufgrund des Stigmas psychischer Störungen oder der oft erschwerten Diagnose Depression.

Kann man sich denn selbst in die psychiatrische Klinik in Werneck einweisen?

Gahr: Für psychiatrische Notfälle, wie zum Beispiel akute Suizidalität, halten wir eine durchgehende Bereitschaft zur Versorgung vor. Es findet vor Ort dann immer zuerst eine Untersuchung durch Fachpersonal statt, danach wird über die erforderliche Therapie entschieden. Bei weniger dringlichen Fällen sollte zunächst telefonisch Kontakt mit unserem zentralen Aufnahme- und Entlassungsmanagement aufgenommen werden. Dort kann im Rahmen eines ersten Gespräches die für die jeweilige Situation beste Therapie vorbesprochen werden, und der Patient erhält einen zeitnahen Termin zur stationären Aufnahme in unserer Klinik.

Welche Krankheitsbilder haben Sie hier am häufigsten?

Gahr: Wir behandeln alle psychischen Erkrankungen. Die Schwerpunkte liegen bei den zahlenmäßig großen Erkrankungen, das sind die depressiven Störungen und die psychotischen Störungen wie die Schizophrenie. Weitere Schwerpunkte sind die Angst- und Substanzgebrauchsstörungen wie Alkoholabhängigkeit sowie altersbezogene psychische Störungen wie Demenzen. In vielen Fällen liegen aber zwei oder mehr psychische Erkrankungen vor.

Büste von Dr. Bernhard von Gudden, dem ersten Direktor der Psychiatrischen Klinik Werneck von 1855 bis 1869.
Foto: Archivbild: Fuchs-Mauder | Büste von Dr. Bernhard von Gudden, dem ersten Direktor der Psychiatrischen Klinik Werneck von 1855 bis 1869.
Wie lange dauert eine Therapie?

Gahr: Das ist sehr unterschiedlich und richtet sich nach dem, was der Patient braucht. Eine Therapie kann manchmal wenige Tage dauern, teilweise aber auch Wochen oder Monate, mit Fortführung der Therapie im ambulanten Bereich.

Psychotherapie oder Medikamente: Was wirkt besser gegen Depression, Angst & Co.?

Gahr: Beide Therapieoptionen haben in der Psychiatrie einen hohen Stellenwert. Bei vielen psychischen Erkrankungen, wie zum Beispiel den schwerer ausgeprägten Formen einer Depression, ist eine Kombination aus medikamentöser Behandlung und Psychotherapie am wirksamsten. Die Therapie ist immer individualisiert, also ein auf die Bedürfnisse des Patienten zugeschnittenes Konzept. Daneben bieten wir natürlich noch andere Verfahren an wie Kunst-, Musik- und Ergotherapie. Mittlerweile gibt es auch Neurostimulationsverfahren wie die Elektrokonvulsionstherapie, die wir im letzten Jahr hier in Werneck eingeführt haben.

Elektroschocktherapie – das klingt wie aus dem Horrorkabinett der Psychiatrie.

Gahr: Die Elektrokonvulsionstherapie, kurz EKT, hat aus historischen Gründen einen schlechten Leumund, was unter anderem daran liegt, dass sie Anfang des 20. Jahrhunderts ohne Narkose und Medikamenten zur Muskelrelaxation durchgeführt worden ist, was zu erheblichen Nebenwirkungen geführt hatte. Heute wird die EKT immer zusammen mit einem Anästhesisten in Kurznarkose und mit Muskelrelaxation durchgeführt. Die EKT ist sehr gut verträglich und sehr wirksam, was mittlerweile in unzähligen Studien belegt werden konnte.

"Die Therapie ist immer individualisiert, also ein auf die Bedürfnisse des Patienten zugeschnittenes Konzept."
Professor Maximilian Gahr
Können Sie die Wirkungsweise dieses Therapieverfahrens mal erklären?

Gahr: Bei der Elektrokonvulsionstherapie wird mit elektrischem Strom ein epileptischer Anfall erzeugt, was bei vielen psychischen Störungen sehr gute therapeutisch Effekte aufweist. Unter anderem geht man davon aus, dass durch die EKT krankheitsbedingte Beeinträchtigungen im Botenstoffhaushalt des Gehirns ausgeglichen werden können. Dass man durch Anwendung von Strom auf den Kopf wieder zu psychischer Gesundheit kommen soll, ist natürlich erst einmal für viele Patienten irritierend. Vielen Patienten macht diese Therapie nachvollziehbarer Weise auch erst einmal Angst. Wir sprechen allerdings mit unseren Patientinnen und Patienten, bei denen wir eine EKT empfehlen, ausführlich über dieses Verfahren.

In der Schweiz wird in der Psychotherapie mit Peers gearbeitet, also mit ehemaligen Patienten, die nach einer spezifischen Ausbildung Teil des Pflegeteams werden. Warum setzt man Peers nicht auch bei uns ein?

Gahr: In Deutschland gibt es das Konzept der Genesungsbegleiter. Das sind Menschen, die selbst als Patienten Psychiatrie-Erfahrungen haben und sich deshalb gut in die Situation anderer Patienten einfühlen können. Wir haben momentan keinen Genesungsbegleiter angestellt, aber wir prüfen tatsächlich gerade, ob wir so etwas machen wollen. 

Der erste Direktor der damals noch Heil- und Pflegeanstalt genannten Klinik Werneck, Bernhard von Gudden, setzte sich für eine Behandlung der Patienten unter Verzicht von Zwangsmaßnahmen ein. Wie halten Sie es heute mit Zwangsmaßnahmen?

Gahr: In der Zeit des Bernhard von Gudden steckte die psychiatrische Versorgung noch in den Kinderschuhen. Menschen mit chronischen psychischen Erkrankungen, die damals keine Aussicht auf eine Verbesserung hatten, versuchte man unter anderem mit Zwangsmaßnahmen zu therapieren. Das lehnte von Gudden ab. Er war ein Verfechter der "No restraint"-Psychiatrie, eine Behandlung ohne Zwangsmaßnahmen. Dennoch ist Zwang in der Psychiatrie leider immer noch sehr häufig erforderlich. Es wäre schön, wenn wir auf die Anwendung von Zwang in der Psychiatrie verzichten könnten. Das ist aber unrealistisch. Denn die akuten schweren psychischen Erkrankungen gehen gelegentlich mit erheblichen Verhaltensstörungen einher, die zu Eigen- und Fremdgefährdung führen, sodass wir die Patientinnen und Patienten manchmal durch Anwendung von Zwang vor sich und andere vor ihnen schützen müssen.

"Bei der Therapie ist es wichtig, Unsicherheiten und Unzufriedenheit mit der Therapie offen anzusprechen."
Professor Maximilian Gahr
Welche Zwangsmaßnahmen werden denn in der Klinik in Werneck angewandt?

Gahr: Das beginnt bei der betreuungsrechtlichen Unterbringung von Patientinnen und Patienten in unserer Klinik und beinhaltet mitunter auch Fixierung oder Zwangsmedikation. Dies darf aber nur dann erfolgen, wenn kein anderes Mittel zur Verfügung steht. Zwangsmaßnahmen sind in der Regel auch nur mit Genehmigung durch einen Richter zulässig. 

Sind psychische Krankheiten heilbar?

Gahr: Der Begriff der Heilung ist in diesem Kontext schwierig. Heilung würde ja bedeuten, dass die Erkrankung vollständig verschwindet, also auch das Risiko für einen Rückfall bei null liegt. Die meisten psychischen Erkrankungen weisen aber ein hohes Rückfallrisiko auf. Patienten, die zum Beispiel einmal eine Depression hatten, bekommen oft eine erneute depressive Episode und mit jeder weiteren steigt das Risiko für die nächste. Das muss man ehrlicherweise sagen. Ähnliches gilt für die psychotischen Störungen. Die meisten psychischen Erkrankungen verlaufen episodisch oder chronisch.

Was sind die Auslöser für psychische Erkrankungen?

Gahr: Wir können die Ursachen der psychischen Erkrankungen nicht benennen. Aktuell gehen wir modellhaft von einem multifaktoriellen Geschehen aus. Wir sprechen von einem bio-psycho-sozialen Krankheitsverständnis. Danach sind die genetische Disposition, gewisse Umweltfaktoren und die Lebensgeschichte des Patienten entscheidend für das Herausbilden einer individuellen Vulnerabilität. Wenn dann zusätzlich noch weitere Faktoren wie Stress, Substanzkonsum oder belastende Lebensereignisse hinzukommen, kann es zum Ausbruch einer psychischen Erkrankung kommen.

Gibt es eine Strategie zur Vorbeugung von psychischen Erkrankungen?

Gahr: Ja, natürlich. Im Allgemeinen sind die Dinge, die Großmutter schon wusste, am stärksten präventiv wirksam: Dazu gehört, eine Aufgabe haben und deren Erfüllung engagiert verfolgen. Tagesstruktur, ausreichend körperliche Bewegung, viel soziale Stimulation, also unter Leute gehen und ein angemessener Umgang mit Suchtstoffen wie Alkohol. Gesunde Ernährung und die richtige Behandlung körperlicher Erkrankungen wie Diabetes oder Herzkreislauferkrankungen gehören natürlich ebenfalls dazu. Wichtig ist, wenn man schon einmal eine psychische Erkrankung hatte, dass man eine Anlaufstelle, zum Beispiel einen Psychiater oder Psychotherapeuten hat, dem man vertraut. Bei der Therapie ist es wichtig, Unsicherheiten und Unzufriedenheit mit der Therapie offen anzusprechen.

Mentale Gesundheit

Immer mehr Menschen leiden unter psychischen Erkrankungen. Und weil immer mehr auch darüber sprechen, rückt das Thema weiter in die Öffentlichkeit. Diese Redaktion möchte einen Beitrag dazu leisten, das Bewusstsein zu stärken, zu enttabuisieren und mit Vorurteilen aufzuräumen. Hierfür sind wir noch auf der Suche nach Menschen aus der Region Main-Rhön, die ihre Geschichte mit uns und unseren Leserinnen und Lesern teilen möchten.
Egal, ob Sie sich bereits auf einem Weg aus der Erkrankung befinden, noch mitten in der Herausforderung stecken oder als angehörige Person über ihre Erfahrungen sprechen möchten – jede Perspektive ist wichtig und kann anderen Menschen Mut machen und helfen, die eigene Erkrankung oder die Angehöriger besser zu verstehen. Wenn Sie Ihre Geschichte öffentlich machen wollen, melden Sie sich gerne hier oder per E-Mail an redaktion.schweinfurt@mainpost.de
Quelle: SWT
 
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