Gegen 17 Uhr ist klar: Es ist von Schweinfurt aus kein Durchkommen mehr Richtung Grafenrheinfeld oder Bergrheinfeld. Weder über Oberndorf noch über den Hafen. Und über die A70 schon gar nicht: An der Ausfahrt Bergrheinfeld stauen sich die Autos der Abbiegewilligen aus beiden Richtungen kilometerweit auf den Standstreifen zurück. Oben am Kreisel lässt die Polizei die Fahrzeuge nur noch in einer Art Blockabfertigung durch. Zu viele wollen die Sprengung der Kühltürme des Kernkraftwerks aus der Nähe sehen.
Welche Route auch immer man vom Navi rechnen lässt: alles tiefrot. Bleibt nur noch die Umkehr Richtung Schweinfurt und die Suche nach einem innerstädtischen Aussichtspunkt, der dann halt erheblich weiter weg von den Kühltürmen ist als erhofft.
Familien aus dem Gründerzeitviertel, Radfahrer und etliche Umkehrer
Auf der Hahnenhügelbrücke finden nicht wenige diesen Punkt: Hier kommen Familien aus dem Gründerzeitviertel, Radfahrer aus dem ganzen Stadtgebiet und etliche Umkehrer zusammen, die den Versuch abgebrochen haben, doch noch irgendwie auf einen der Hügel im Maintal zu gelangen. Ein paar Hundert dürften es sein, die sich bis 18.30 Uhr in drei bis vier Reihen am Geländer flussabwärts drängen.
Von hier aus sieht es wegen einer Flussbiegung zwar aus, als stünden die Kühltürme auf der rechten Mainseite, gut zu erkennen sind sie trotzdem. Die Stimmung ist erwartungsvoll und fröhlich. Vor allem die Kinder verkünden regelmäßig die verbleibenden Minuten bis zur angekündigten Sprengung. Nur leider: Der Zeitpunkt verstreicht ganz ohne Knall und Staubwolke.
"Wenn bis 19 Uhr nichts passiert, gehe ich heim", verkündet ein vielleicht achtjähriges Mädchen. "Du bleibst schön da", entscheidet der Vater. Und gibt zu bedenken: "Wenn wir jetzt gehen, sprengen sie garantiert kurz danach."
Als sich dank des Livetickers dieser Redaktion auf der Brücke herumspricht, dass sich die Sprengung verzögern werde, weil eine Person in den Sperrbereich eingedrungen sei, und als wenig später die Information kommt, dass diese Person ein Aktivist mit Transparent auf einem Strommast sei, entsteht sofort eine Debatte, wie streng ein solcher Übertritt bestraft werden solle. Eine Geldstrafe, darüber herrscht Einigkeit, sei jedenfalls nicht abschreckend genug.
Offenbar hat kaum jemand die Hoffnung, dass sich der Fall schnell lösen wird: Gegen 19.20 Uhr haben die allermeisten Schaulustigen die Brücke wieder verlassen. Kurioserweise sind nun auch die Straßen Richtung KKG wieder völlig frei: Der Stau der Enttäuschten und Ungeduldigen zeigt bereits in die Gegenrichtung. Und so schafft es der Reporter ganz locker in weniger als 20 Minuten von der Hahnenhügelbrücke mit dem Auto zum Sportplatz in Bergrheinfeld. Und damit pünktlich zu einem Logenplatz, als es dann um 19.56 Uhr tatsächlich knallt.
Und das wird dann auch bis zum Exzess ausgelebt.
Unglaublich.
Todgeweihte wurden in die Arena geführt und die "sensationshungrige Meute" erfreute sich am Sterben.
Das AKW Grafenrheinfeld ist seit Jahren stillgelegt, das Gelände drumherum bleibt auf Jahrzehnte hinaus gesperrt, weil es als Zwischenlager bis Ultimo genutzt werden wird.Wen oder was haben also die Kühltürme gestört?
Bis dato war auch nichts zu lesen, dass man doch auf dem Gelände einen großen Solarpark und mehrere Windkraftanlagen errichten könnte.
Bei aller Ironie, die dem Schicksal der Kühltürme beiwohnt, sollten wir nicht vergessen, dass der Wind meist aus Westen oder Osten kommt.
Also von dorther, wo in Europa die meisten AKW's stehen. Denken wir an Tschernobyl und die Folgen, muss man sich fragen, warum wir uns in Deutschland auf die "Anderen" verlassen (haben), anstatt selbst die Atomkraft zu einer sicheren und zukunftsfähigen Technik zu entwickeln.
Gerhard Fleischmann