Das Missbrauchsgutachten für die Erzdiözese München und Freising, das in der vergangenen Woche vorgestellt wurde, erschüttert die katholische Kirche. Das neue Gutachten erhebt unter anderem schwere Vorwürfe gegen den emeritierten Papst Benedikt XVI. Der damalige Kardinal Joseph Ratzinger habe in seiner Zeit als Münchner Erzbischof Missbrauchstäter "mit hoher Wahrscheinlichkeit" wissentlich in der Seelsorge eingesetzt und darüber die Unwahrheit gesagt. So beurteilt es die vom Bistum beauftragte Anwaltskanzlei Westpfahl Spilker Wastl (WSW). Die Studie geht von mindestens 497 Opfern und 235 mutmaßlichen Tätern aus - und von einem weit größeren Dunkelfeld.
Kirchenvertreter und Gläubige sind entsetzt, Standesämter rüsten sich für eine Flut von Kirchenaustritten. Was sagen die Menschen in Unterfranken dazu? Wie ist die Stimmung in den Pfarrgemeinden? Befürchten Pfarrer mehr Kirchenaustritte? Fünf Kirchenvertreter aus Haßfurt, der Rhön, Kitzingen, Schweinfurt und Gemünden erzählen, wie es ihnen und ihrer Gemeinde jetzt geht.
Der damalige Kardinal Joseph Ratzinger habe in seiner Zeit als Münchner Erzbischof Missbrauchstäter „mit hoher Wahrscheinlichkeit” wissentlich in der Seelsorge eingesetzt und darüber die Unwahrheit gesagt. So beurteilt es die vom Bistum beauftragte Anwaltskanzlei Westpfahl Spilker Wastl (WSW).
1. Stephan Eschenbacher, Stadtpfarrer von Haßfurt: "Ich bin beschämt und wütend"
"Ich persönlich bin beschämt und wütend, dass das in dieser Form in meiner Kirche jahrzehntelang praktiziert worden ist. Dass ich mich persönlich für die Vorfälle rechtfertigen musste, habe ich bisher noch nicht erlebt. Aber es lässt mich nicht kalt, es macht etwas mit einem, es beschämt mich und es fließt auch immer wieder in den Kontakt mit den Gläubigen mit ein.
Auf das Münchner Gutachten habe ich noch keine konkreten Reaktionen erfahren, da aufgrund von Corona die Möglichkeiten, mit den Gläubigen zu sprechen, stark eingeschränkt sind. Aber München bestätigt ja hauptsächlich das Ergebnis früherer Gutachten wie das von Köln. Danach bin ich von vielen Menschen auf die Missbrauchsfälle und das Verhalten der Kirche angesprochen worden. Sie waren schockiert.
Es haben mich auch einige Menschen angesprochen, die ehrenamtlich in der Kirche mitarbeiten, die mir gesagt haben, sie wissen nicht, wie lange sie das noch aushalten. Sie kommen inzwischen an ihre Grenzen. Ich glaube aber nicht, dass jetzt eine große Austrittswelle folgen wird, die Vielzahl an Austritten gab es schon nach Köln. Jetzt treten vielleicht die Menschen aus, die sich noch unsicher waren, ob sie das tun sollen."
2. Korbinian Klinger, Guardian am Kloster Kreuzberg: "Ich bin sehr betroffen und auch enttäuscht"
"Durch meine Beheimatung in der Erzdiözese München und Freising habe ich die Berichterstattungen immer verfolgt. Schon die ersten Gutachten und Informationen haben mich erschreckt. Nun bin ich sehr betroffen und auch enttäuscht, letztlich sprachlos.
Ich frage mich, ob ein jahrzehntelanges religiöses Leben einen Menschen nicht wirklich zu einem besseren, geradlinigen Leben verhelfen kann. Mich macht wütend, dass nur immer das zugegeben wird, was schon offen daliegt. Über alle Selbstzweifel erhaben, keiner hat den Mut zu sagen: ja, ich.
Es wird mit zweierlei Maß gemessen: Mit Blick auf die Gläubigen wird rigoros geurteilt, verurteilt, gedroht und ausgeschlossen. Und im eigenen Kreis, da wird vertuscht und zugedeckt. Was wurden wir als Kinder mit dem Beichtspiegel zum 6. Gebot traktiert und geängstigt. Es kann keine Schönheitsreparaturen mehr geben, es muss von Grund auf erneuert werden."
3. Gerhard Spöckl, Dekan in Kitzingen: "Wir brauchen endlich eine Kontrolle von außen"
"Ich befürchte, dass dies nicht die letzten Enthüllungen dieser Art sein werden. Es ist eine Katastrophe und es wird höchste Zeit, dass wir uns an den Kern des Problems heranmachen. All den Fällen liegt ein systembedingtes Versagen zugrunde. Die Hierarchien, die wir nach wie vor in der Kirche haben, begünstigen solche Missbrauchsszenarien. Macht wird missbraucht, es wird weggeduckt, man will von nichts wissen, keiner will was ansprechen, jeder hält sich zurück.
Die Demokratie ist sicherlich die schwierigste Form des Zusammenlebens. Aber sie funktioniert, weil es eine gegenseitige Kontrolle gibt. Genau diese Kontrolle funktioniert innerhalb der Kirche immer noch nicht. Je höher man in der Hierarchie aufsteigt, desto schwieriger scheint es zu werden. Wir brauchen endlich eine Kontrolle von außen, von Seiten des Staates. Eine Hilfe könnten Ombudsstellen sein, wie andere Länder sie haben."
4. Joachim Werb, Diakon in Schweinfurt: "Das Gefühl des Fremdschämens begleitet mich"
"So oft wurde ich noch nie zu einem Thema, die Amtskirche betreffend, angesprochen. Die Erschütterung der Grundfeste der Institution Kirche hat für mich einen historischen Höhepunkt erreicht. Der Verlust der Glaubwürdigkeit weniger kirchlicher Mitarbeiter trifft alle Engagierten, egal ob im Haupt- oder Ehrenamt. Das Gefühl des Fremdschämens begleitet mich seitdem im Alltag.
Besonders schmerzlich für mich ist, dass nun christliche Grundwerte wie Vertrauen und Wahrhaftigkeit sowie auch die Verbindlichkeit christlicher Lebensführung schwer in Mitleidenschaft gezogen werden. Das Ausbleiben von Eingeständnissen und demütiger Bitten um Vergebung durch die Schuldigen führt zu Distanzierungen der Menschen von der Amtskirche, die unüberbrückbar erscheinen. Kirchenaustritte sind eine Folge davon, genauso wie der Verlust des Engagements vieler wohlwollender Gläubigen, die einer solchen Institution nicht mehr vertrauen können.
Nicht nur in der Verkündigung im Gottesdienst, sondern im täglichen Umgang mit verunsicherten und fragenden Menschen bin ich, sind alle Seelsorgerinnen und Seelsorger, gefordert, den Menschen eine zuverlässige Perspektive anzubieten. 'Trotzdem' oder 'gerade jetzt' den eigenen Glauben zu bewahren, vielleicht neu zu definieren, mit Blick auf den wahren Kern der Botschaft Christi, ist eine Herausforderung, die es anzunehmen lohnt.
Wenn die tragende Einheit einer traditionellen Institution zerbricht, ist umso mehr jeder einzelne als echter und solidarischer Glaubenszeuge gefordert, die eigentliche Botschaft Jesu zu leben und weiterzugeben. Kirche ist immer die Gemeinschaft aller Gläubigen, jenseits von Institution, Strukturen und menschlichen Machtverhältnissen. Für diese Gemeinschaft kann und will ich meinen Beitrag leisten, im Sinne Jesu und für die Menschen in all ihrer Vielfalt."
5. Dr. Thorsten Kapperer, Pastoralreferent in Gemünden: "Ich befürchte definitiv weitere Austritte"
"Die Reaktionen im kirchlichen Umfeld sind sehr emotional. Meinen Kollegen und mir schlägt das schwer aufs Gemüt. Und es wäre auch fatal, wenn das spurlos an einem vorbeiginge. Auch wenn es kein neues Thema ist und uns schon seit Jahren beschäftigt, wird die neue Missbrauchsstudie vor Ort mit großem Entsetzen und Bestürzung wahrgenommen. Viele stehen ohnmächtig davor.
Auch wenn mir in meinem direkten Arbeitsumfeld in Gemünden keine Fälle bekannt sind, wissen wir, dass uns das Thema alle betrifft. Ich befürchte auch definitiv weitere Austritte. Viele Menschen, die sich von der Kirche ohnehin entfremdet haben, aber noch Mitglied sind, nehmen so eine Studie zum Anlass, um zu sagen: Das Maß ist voll. Im Raum Gemünden glaube ich nicht, dass das in Scharen passieren wird, aber es wird auf jeden Fall Leute geben, die diesen Schritt gehen. Oft hörten wir auf Nachfrage, dass diese Entscheidung nichts mit der Arbeit der Ehren- oder Hauptamtlichen vor Ort zu tun hat, sondern mit der Gesamtsituation.
Zwar werden wir schon von Gläubigen auf das Thema angesprochen, aber uns persönlich werden keine Vorwürfe gemacht. Da wird durchaus unterschieden. Wobei ich mich natürlich trotzdem frage: Was können wir machen? Es wäre mir zu billig, die Haltung zu vertreten: 'Ich kann nichts dafür, was der Papst sagt.' Ich arbeite ja für die Kirche und gehe mit meinem Gesicht raus in die Öffentlichkeit.
Es beschämt mich, wenn ich sehe, wie mit den Missbrauchsfällen in den letzten Jahren teilweise umgegangen wurde, vor allem wenn ich höre, dass sich Betroffene teilweise nicht ernst genommen fühlen. Ich möchte nicht die Initiativen von Bistümern unterschlagen, die sich redlich bemühen. Da ist seit 2010 schon einiges gut auf den Weg gebracht worden. Insgesamt müsste jedoch noch klarer werden, dass die Opferperspektive vor dem Schutz der Institution steht.
Wir brauchen jetzt absolute Transparenz und Konsequenzen – auf allen Ebenen. Darüber hinaus muss die Sexualmoral der Kirche an vielen Stellen dringend hinterfragt werden, zum Beispiel was dort über Homosexuelle steht. Das ist nicht mehr vertretbar. Von daher freut mich die Initiative #OutInChurch sehr – das ist ein Schritt in die richtige Richtung!"
Was muß noch alles aufgedeckt werden, bis man aufwacht?
Der Fisch stinkt zuerst am Kopf!
Wer als Geistlicher jetzt so überrascht reagiert, der war wohl sehr blauäugig und sah wohl nicht, was schon lange sichtbar und bekannt war.
Am beeindruckendsten sind die Sätze von Korbinian Klinger. Besser kann man es nicht ausdrücken.