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Schweinfurt
Sechs Jahre nach ihrer Flucht aus Syrien haben Beraa Hussein und ihre Familie in Schweinfurt eine neue Heimat gefunden
Der Bürgerkrieg in Syrien zwang Beraa Hussein und ihre Familie zur Flucht. In Schweinfurt haben sie sich inzwischen ein neues Leben aufgebaut. Doch es gab auch Hürden.
Vor fünf Jahren ist Beraa Hussein (rechts) nach Deutschland geflohen. In Schweinfurt absolviert die 47-Jährige derzeit eine Ausbildung zur Erzieherin. Links im Bild Lehrerin Hille Reick.
Foto: René Ruprecht | Vor fünf Jahren ist Beraa Hussein (rechts) nach Deutschland geflohen. In Schweinfurt absolviert die 47-Jährige derzeit eine Ausbildung zur Erzieherin. Links im Bild Lehrerin Hille Reick.
Marcel Dinkel
 |  aktualisiert: 08.02.2024 10:39 Uhr

Behutsam drückt Beraa Hussein einen geformten Henkel an die Tontasse vor ihr. Der Kunst- und Werkunterricht an der Fachakademie für Sozialpädagogik in Schweinfurt gefalle ihr besonders, sagt die 37-Jährige, während sie mit ihren Händen die Tasse formt. "Hier kann ich meinen Gedanken freien Lauf lassen." Solche Momente hatte die junge Frau mit dem Blumenmuster auf dem Kopftuch und dem strahlenden Lächeln in den vergangenen Jahren selten.

Hussein stammt aus einem Vorort von Aleppo, zehn Kilometer vom Zentrum der Großstadt im Norden Syriens entfernt. Vier Kinder, ein Auto, ein Haus. "Wir waren nicht reich, aber wir hatten ein normales Leben", erzählt sie. Husseins Mann arbeitete als Steuerberater, sie als Religions- und Arabischlehrerin in einer Schule – bis 2011 der Bürgerkrieg über das Land hereinbrach und das Leben der Familie schlagartig änderte. 

"Wir wollten unsere Heimat nicht verlassen", sagt Hussein. Acht Jahre lang versuchte die Familie trotz der ständigen Gefahr ein weitestgehend normales Leben zu führen. Als sich der Krieg 2018 in Aleppo zuspitzte, war sie gerade hochschwanger. Krankenhäuser, Schulen und Infrastruktur waren zu diesem Zeitpunkt großteils zerstört, der Betrieb darin nur eingeschränkt möglich.

Husseins Baby kam als Frühchen zur Welt und war auf medizinische Hilfe angewiesen. Doch die gab es zu diesem Zeitpunkt nicht mehr, sagt sie. Weil auf den Frühgeborenenstationen medizinische Geräte wie Beatmungsgeräte fehlten oder zerstört waren, konnten die Ärzte ihrem Sohn nicht helfen. "Ich habe meinen Vater, meinen Bruder und meinen Sohn durch den Krieg verloren", sagt Hussein.

Ein Jahr lang auf der Flucht

Ein Schock, der bis heute nachwirkt. Als kurz danach auch noch Tochter Salam bei einem Bombeneinschlag auf das Nachbarhaus verletzt wird, ist ihre Kraft am Ende, sagt Hussein. "Mir wurde klar, wenn ich meine Familie schützen will, kann ich nicht länger hierbleiben." 2017 fliehen sie aus Syrien. Zunächst in die südliche Türkei. Vater Chadi Akrah hält die Familie in dieser Zeit mit Schwarzarbeit in einer Molkerei über Wasser.

Richtig bezahlt worden sei er trotz Schwerstarbeit nicht, sagt er. "Die Zeit in der Türkei war die Hölle", ergänzt Tochter Amira. Neun Monate später bekam die Familie schließlich einen Anruf von einer UN-Mitarbeiterin. "Als die Frau am Hörer fragte, ob wir nach Deutschland reisen wollen, konnten wir unser Glück kaum fassen", erinnert sich Amira Akrah. Im Februar 2019 kamen die Husseins mit dem Flugzeug in Hannover an. "Nach zwei Wochen wurden wir nach Poppenhausen zugeteilt."

Konnten nach langer Suche ihre erste eigene Wohnung in Schweinfurt finden: Amira Akrah (18), Mohammad Akrah (7), Chadi Akrah (47), Beraa Hussein (37), Amal Akrah (15) und Salam Akrah (11).
Foto: René Ruprecht | Konnten nach langer Suche ihre erste eigene Wohnung in Schweinfurt finden: Amira Akrah (18), Mohammad Akrah (7), Chadi Akrah (47), Beraa Hussein (37), Amal Akrah (15) und Salam Akrah (11).

Dort angekommen, versuchte die Familie, mit den neuen Herausforderungen umzugehen. Es folgte die Anmeldung bei der Ausländerbehörde und dem Jobcenter. Die Nachmittage bestanden fortan daraus, Wörterbücher zu lesen und Sprachkurse zu besuchen. Um schneller die Sprache zu lernen, schrieb die Familie die Begriffe von Gegenständen auf kleine Zettel und klebte sie darauf fest.

"Es war eine sehr stressige Phase", sagt Beraa Hussein. Weil sie für Mohammad zunächst keinen Platz im Kindergarten fanden, mussten sich die Eltern selbst um die Betreuung ihres Sohns kümmern. Dazu kam, dass ihre Berufe in Deutschland nicht anerkannt wurden. "Wir wollten wieder arbeiten, mussten aber von vorne beginnen."

Um möglichst schnell auf eigenen Beinen stehen zu können, versuchte Chadi Akrah einen Busführerschein zu machen und hatte Glück: Das Jobcenter übernahm die Kosten. "Als Familie, die in einem neuen Land mit nichts beginnen muss, hätte sich unser Vater die Ausbildung sonst nicht leisten können", sagt Amira Akrah. Trotz sprachlicher Hürden schaffte ihr Vater die Prüfung auf Anhieb. Es folgt eine Anstellung bei der WVV in Würzburg, einige Monate später bei den Stadtwerken Schweinfurt. 

Menschen schnell in Arbeit bringen

"Arbeit ist der beste Weg in Deutschland anzukommen", erklärt Kristina Dietz, Pressesprecherin der Stadt Schweinfurt. Damit das klappt, müssen Geflüchtete jedoch – unabhängig von ihrem Herkunftsland – vor allem beim Spracherwerb, der Arbeitssuche und der Ausbildung gefördert werden. Eine zusätzliche Herausforderung auf dem Schweinfurter Arbeitsmarkt ist, so Dietz, die Prägung durch die hiesige Großindustrie. Hier seien die Qualifikationshürden besonders hoch.

Doch auch im pädagogischen Bereich, wo ebenfalls dringend Fachkräfte gesucht werden, seien die Voraussetzungen hoch, sagt Harald Wildfeuer, Leiter der Schweinfurter Fachakademie für Sozialpädagogik. Beraa Husseins Fall sei beispielhaft hierfür. Vor allem arabische Abschlüsse seien in der Pädagogik nicht allgemein auf Deutschland übertragbar. Viele Menschen, die hierherkommen, seien zwar Naturtalente im Umgang mit Kindern, scheiterten aber häufig an der sprachlichen Barriere, so Wildfeuer.

Wenn Amira Akrah nicht für die Schule lernt, malt sie an ihrer Staffelei in ihrem Zimmer. Nach dem Abitur möchte die 18-Jährige gerne Medizin studieren.
Foto: René Ruprecht | Wenn Amira Akrah nicht für die Schule lernt, malt sie an ihrer Staffelei in ihrem Zimmer. Nach dem Abitur möchte die 18-Jährige gerne Medizin studieren.

"Wir haben Frau Hussein deshalb die Brücke gebaut und sie vor ihrer Ausbildung als Erzieherin hier an die Berufsfachschule vermittelt, wo sie hervorragend abgeschlossen hat." Derzeit macht die 47-jährige Mutter eine Ausbildung als Erzieherin. Deutsch spricht sie fließend. "Beraa ist ausgesprochen gewissenhaft, zuverlässig und engagiert", sagt Wildfeuer.

"Wir haben uns hier ein neues Leben aufgebaut. Dafür wollen wir auch etwas zurückgeben"
Beraa Hussein, angehende Erzieherin aus Schweinfurt.

Beraa Hussein ist ebenfalls glücklich, eine Perspektive in Schweinfurt gefunden zu haben. "Wir haben uns hier ein neues Leben aufgebaut. Dafür wollen wir auch etwas zurückgeben", sagt sie. Auf ihre Arbeit mit Kindern freut sich die angehende Erzieherin besonders. "Kinder haben keine Vorurteile und verstehen, wer man ist."

Was ihre eigene und die Zukunft ihre Familie in Schweinfurt betrifft, wünsche sich die Mutter, dass der Staat stärker darauf achte, was Geflüchtete seit ihrer Ankunft dafür getan haben, um sich vor Ort zu integrieren. "Wir sind hier in Deutschland, um zu lernen und unseren Weg zu finden."

 
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  • Matthias Braun
    Das ist gelungene Integration. Die Menschen arbeiten in Deutschland, zahlen Steuern und leisten einen wichtigen Beitrag in unserer Gesellschaft. Diese Menschen möchte die AfD u a. auch wieder abschieben. Das ist ekelhAfD Die AfD hofiert Putin und ist Putinversteher. Dass Putin u a syrische Städte bombardiert hat und Flüchtlinge dadurch nach Europa getrieben hat ist einer von vielen Widersprüchen der AfD.
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  • Manfred Englert
    Stimme ich dir völlig zu.

    Achlan ua sachlan (phonetisch)an diese Familie.
    Ich kenne Aleppo aus den 80ern, war eine wunderschöne Stadt.
    Ja, es waren Putins Schergen, sie zerstörten Syrien , vermutlich sahen die das Land als "realen Truppenübungsplatz" für ihren jetzigen Vernichtungskrieg in der Ukraine.
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