Es hat ja schon fast etwas Final-Versöhnliches, wenn zum Abschluss des Jubiläumsjahres "100 Jahre Eingemeindung Oberndorf" ein typisch Schweinfurter Brauch, eine "Original Schweinfurter Schlachtschüssel", auf Oberndorfer Grund fröhliche Urständ feiert. Ein kulinarischer Handschlag sozusagen, sollte es 100 Jahre nach dem historischen Datum noch den einen oder anderen Oberndorfer geben, der der Unabhängigkeit des Ortes nachtrauert. Umso kräftiger wird dieser Handschlag, wenn eine Oberndorfer Metzgerei wie die von Michael und Rudi Geeb die Schlachtschüssel serviert und die reichlich gekommenen Schnüdel satt füttert. Das i-Tüpfelchen ist dann der Veranstaltungsort. Das ZF-Kesselhaus hat zwar schon viel erlebt, aber, obwohl es den Kessel im Namen hat, kein Kesselfleischessen.
Derart Historisches trug sich am Samstag an erwähnter Stelle zu. Rund 300 Gäste brauchten an diesem Tag keinen Teller; und auch Schüsseln stehen bei einer Original-Schweinfurter Schlachtschüssel nur auf dem Tisch, um das Sauerkraut zusammenzuhalten, bevor es nach Belieben kreativ auf den Pappelholz-Platten verteilt wird. Holzplatten pur ohne Lack und Lasur, wie sie als Unterlage für Bauchfleisch, Nierli, Briesli, Sauerkraut, Salz, Pfeffer und Meerrettich in Schweinfurt nun mal üblich sind, auch wenn Hygiene-Aktivisten mit gerunzelter Stirn darauf blicken dürften. Überhaupt die "Briesli". Für Eingeweihte das Beste am Kesselfleisch und doch ein Begriff, den man vergeblich googelt. Um irgendwelche Drüsen im Kopfbereich soll es sich handeln, doch wer will das so genau wissen, wenn sie auf den Punkt gekocht vor einem liegen. Kopf, Bauch, Stich, Brustspitz – ein echter Schnüdel weiß ganz genau, dass man sich bei den ersten beiden Runden dieses Schweinfurter Viel-Gänge-Menüs (einer davon ist der Schnaps) zurückhalten sollte, damit bei den weiteren noch was reinpasst.
Die Holzplatten, mehr Original-Schlachtschüssel geht nicht, hat Rudi Geeb übrigens selbst zusammengezimmert. Der Metzger, der offensichtlich auch Schreiner kann, zeigt stolz Handyfotos, auf denen er mit Traktor und einer Fuhre voller Pappelstämme unterwegs ist. Das Ergebnis, auf Maß gezimmert und fest verfugt, wird noch so manche Schlachtschüssel aushalten.
Viel Zeit für Kesselfleisch-Talk zwischen den Gängen
So eine Schlachtschüssel mit ihrem luftigen Gänge-Terminplan braucht Zeit und bietet Zeit für reichlich Unterhaltung. Zum Beispiel, schließlich geht es hier um 100 Jahre Eingemeindung Oberndorf, über die nicht ganz reibungsfreie Geschichte dieser letztlich doch gelungenen Stadt-Land-Hochzeit. Am 1. Dezember 1919 vereinigte sich Oberndorf mit der Stadtgemeinde zu einer Gesamtgemeinde. Alles andere als eine Hau-Ruck-Vereinigung, denn seit 1874, also letztlich schlappe 45 Jahre, hatte man darüber diskutiert, gestritten, abgewägt und verhandelt.
Oberbürgermeister Sebastian Remelé, naturgemäß auch Schultheiß der Oberndorfer, oblag es, ein wenig Licht in diese Geschichte zu bringen, das den Nachgeborenen vielleicht nicht mehr so hell leuchtet, wie das vor 100 Jahren der Fall gewesen sein dürfte.
Oberndorf, 1874 ein typisches Bauerndorf, bekam auf seiner Gemarkung einen Bahnhof, der bis 1893 auch tatsächlich Rangierbahnhof "Oberndorf-Schweinfurt" hieß, zum "Centralbahnhof" wurde und heute der Hauptbahnhof ist. Mit dem Bahnhof kam die Industrie. 1890 die Anglo-Bavarian Steel Ball Co., 1896 Kugelfischer, Fries & Höpflinger, Fichtel & Sachs, und die Deutsche Star folgten. Dazu kamen chemische Industrie und zwei Malzfabriken, schließlich macht Fabrikarbeit durstig.
Als Oberndorf finanziell an seine Grenzen kam
So wurde Oberndorf zur Wiege der Schweinfurter Großindustrie und war doch immer noch ein Dorf, auch wenn die Zahl der Einwohner 1802 noch bei 300 lag, hundert Jahre später schon bei mehr als 2500. Entsprechende Infrastruktur wie Wohnungsbau, Wasserversorgung, Kanalisation sollte dem "explosionsartigen Bevölkerungswachstum" gerecht werden. Der Wasserturm, heute noch ein Wahrzeichen der Stadt, sollte dafür sorgen, dass in den neuen Industriehallen immer genug Druck auf der Leitung ist.
Das alles kostet Geld, viel Geld, zu viel für Oberndorf allein, das schnell an seine Grenzen kam. Es ist kein Geheimnis, dass vor allem die Oberndorfer Unternehmer, die ja nicht so sehr nach Oberndorf, sondern schon viel mehr nach "Bahnanbindung" gekommen waren, zur treibenden Kraft der Eingemeindung wurden. Doch die Oberndorfer liefen nicht mit wehenden Fahnen nach Schweinfurt über, wollten ihre dörflichen Privilegien wie die Gemeindeschmiede, die Zuchttierhaltung oder das Recht auf Hausschlachtung oder die kostenlose Entnahme von Bausand aus der örtlichen Sandgrube hinüber in die neue Zeit retten. Im Gegenzug sollte auch die angewachsene Oberndorfer Bevölkerung in den Genuss städtischer Annehmlichkeiten kommen, wie den Anschluss an Gaswerk und Kläranlage.
"Und Schweinfurt war und ist willig, was neue Eingemeindungen angeht", bemerkte Remelé. Mit Blick auf Oberndorf ist das nicht verwunderlich, verinnerlichte die Stadt am 1. Dezember 1919 doch nicht nur knapp 3900 Einwohner und 818 Hektar Bodenfläche, sondern auch einen Hauptbahnhof drei Großbetriebe der Metallindustrie mit mehr als 3000 Arbeitern, zwei Malzfabriken und mehrere Kleinbetriebe. Schweinfurt wuchs seinerzeit durch die Übernahme Oberndorfs auf 31 670 Menschen an.
Wäre Schweinfurt heute Oberndorfs armseliger Nachbar?
Wurde also nun das naive Oberndorf vom besitzgierigen Schweinfurter seiner Selbstständigkeit beraubt? Wäre alles anders gekommen, wenn man eigenständig geblieben wäre, hätte heute ein stattliches von der Industrie geprägtes Oberndorf einen eher armseligen Nachbarn namens Schweinfurt? Solche Theorien halten sich hartnäckig, dürfen aber weiter im Reich der Legenden überleben. Schließlich gibt es Oberndorf noch immer, ein Ort in dem es sich ländlich leben lässt, aber alle städtischen Vorteile, wenn nicht direkt vorhanden, so doch zumindest in allernächster Reichweite sind, wie es Stadträtin Marianne Prowald, Initiatorin des Kesselfleischessens im Kesselhaus, empfindet. Oberndorf bleibt Oberndorf, auch wenn es zu Schweinfurt gehört, es gibt kein Oberschweindorf und auch kein Schweinoberfurt. Im Schwein geeint sind die Oberndorfer und Schweinfurter nicht nur bei der Original Schlachtschüssel, die der Schweinfurter Gastwirt Georg Josua Schwanhäuser 1856 erstmals im "Goldenen Stern" in der damaligen oberen Gasse anbot, und die gut 150 Jahre später ein Oberndorfer Metzger mindestens genauso vortrefflich zu kredenzen vermag - auch das ist eine Form des Zusammenwachsens.