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SCHWEINFURT
Stadtteilserie: Oberndorf, die Wiege des Wohlstands
„Walpurgisgericht“ in Oberndorf. Wer hier schuldig gesprochen wird, hat meistens nichts zu lachen
Foto: Josef Lamber | „Walpurgisgericht“ in Oberndorf. Wer hier schuldig gesprochen wird, hat meistens nichts zu lachen
Stefan Sauer
Stefan Sauer
 |  aktualisiert: 16.12.2021 11:33 Uhr

Dörflich ist der Charakter Oberndorfs – zumindest im Kern – nach wie vor. Und manchmal scheint es, als würden manche Oberndorfer auch heute noch, knapp 100 Jahre nach der Eingemeindung, mit der Stadt Schweinfurt ein wenig fremdeln.

Das hat Gründe, die tief in die Geschichte reichen. Denn nicht erst 1919 ist das Dorf westlich von Schweinfurt ins Stadtgebiet eingemeindet worden. Um 1432 kauft die Freie Reichsstadt dem klammen Freiherrn von Thüngen das Dorf ab, bis 1802 ist die Bevölkerung den Städtern Untertanen – mit allen Differenzen um Grund- und Fischereirechte, die sich da so ergeben können.

Die Industrie wächst hier kräftig

Die Industrialisierung schließlich, die das eher ländliche Schweinfurt dank seiner genialen Tüftler und Erfinder zu einem beachtlichen Zentrum der Kugellager- und Mobilitätsentwicklung werden lässt, findet großflächig und überwiegend auf Oberndorfer Gemarkung statt.

Ende des 19. Jahrhunderts wächst dort die Industrie – der Kugelfischer (FAG, heute Schaeffler), die SKF mit ihren Werken 2 und 4. Fichtel & Sachs (heute ZF, Werk-Nord und Hauptverwaltung). Die Bebauung der Ernst-Sachs-Straße etwa besteht zum größten Teil aus einem Ensemble von Industrie-Klinkerbauten im einfachen Bauhausstil. Durch die großen Fabriken in der Ernst-Sachs-Straße wird die Lücke zwischen Dorf und Stadt geschlossen. Am 1. Dezember 1919 ist Schluss mit der gut 100 Jahre währenden Selbstständigkeit – Oberndorf wird eingemeindet.

„In Oberndorf haben wir alles“, frotzelt noch im März 2012, als es den 200. Geburtstag des legendären Tretkurbel-Erfinders Philipp Moriz Fischer zu feiern gilt, Marianne Prowald vom rührigen Oberndorfer Bürger- und Kulturverein in Richtung Stadt Schweinfurt. Fischers Wohnhaus steht im beschaulichen Oberndorf, neben der Wirtschaft.

Zwei Kirchen und ein Künstlerhof

Der Stadtteil besitzt zwei Kirchen – eine evangelische (Kreuzkirche) und eine katholische (St. Josef) – ferner zwei Kindergärten und zwei Schulen (eine Grund- und eine Förderschule), ein paar Wirtshäuser und eine große Diskothek. Ferner: Das ZF-Sachs-Museum und das kleine Feuerwehrhaus in der Ortsmitte, das heute für Versammlungen und Kulturveranstaltungen genutzt wird.

Und: Seit langem gibt es den Künstlerhof – ein renoviertes Anwesen in der Hauptstraße, das der 1984 verstorbene, recht bekannte Oberndorfer Künstler Gustl Kirchner als Atelier genutzt hatte. Der Künstlerhof lockt mit Ausstellungen interessiertes Publikum auch von weither an.

Wie soll die Oberndorfer Mitte aussehen?

Öfters mal fliegen im ehemaligen Feuerwehrhaus verbal die Fetzen. Zum Beispiel, als es um den längst genehmigten Kiesabbau am Rande eines Neubaugebiets geht, der unter den Anrainern entschiedene Kritiker hat.

Wie eine moderne „Oberndorfer Mitte“ irgendwann einmal tatsächlich aussehen soll, welcher Mix aus Wohnen, Geschäften, hübschem Lebensraum im Dorfzentrum verwirklicht werden kann, ist seit vielen Jahren ein Anliegen – und ist es weiter. Es gab Diskussionen und Planungen – am Ende war dann der Investor weg.

Die (zu) viel befahrene nervige Hauptstraße, beziehungsweise wie man sie „beruhigen“ könnte, ist ein Dauerthema. Jüngst wollte der Bauausschuss dazu und zur Neugestaltung der Dorfweihers ohne vorherige Bürgerversammlung eine von vier Varianten beschließen. So nicht, maulten eine Oberndorfer-Versammlung im alten Feuerwehrhaus – und die Abstimmung im Ausschuss wurde vertagt.

Eingemeindung vor 98 Jahren

Wie hartnäckig unabhängig sich das solide Oberndorfer Selbstbewusstsein auch 98 Jahre nach der Eingemeindung zu behaupten weiß, dafür stehen diese Diskussionen und Forderungen an die Stadt. Vor über zwei Jahren schon hatte Stadtrat Werner Bonengel gefordert Straßenausbaibeiträge für Anwohner abzuschaffen, weil ja alle die Straßen benutzen, nicht nur Anrainer. Und welche Straße war der lokale Bezugspunkt? Die Engelbert-Fries-Straße – in Obendorf natürlich.

Keine andere Veranstaltung aber steht wohl so für die Besonderheit des westlichen Stadtteils und einstigen Dorfes wie das weithin berühmte „Walpurgisgericht“. Seit über zwei Jahrzehnten lockt es immer an Fronleichnam in Gestalt eines Mittelalter-Spektakels tausende Besucher in den Pfister-Park. Höhepunkt ist stets die Gerichtsverhandlung.

Berühmt: Das Walpurgisgericht

Letztes Jahr, zum Beispiel, hatten der Schultheiß und seine Schöffen über eine erhebliche Ungehörigkeit zu befinden: Bürger des Oberndorfs hatten demnach eine Mautstelle errichtet und jeden abkassiert, der das „kleine rebellische Dorf am Rande der Stadt“ passieren wollte. Auf den Oberndorfer Gemeindekassier Fritz Katz und seine Frau Babette, die im Maut-Haus zur Kasse gebeten hatten, waren vor allem die Bürger aus Berch, Rafeld und Hädefäld sauer, weil sie ja auf dem Weg in die Stadt zahlen mussten – und die Geschäftsleute in der Stadt klagten über Umsatzeinbußen.

Auch wenn sie sich im Laufe von fast 100 Jahren natürlich ins Stadtgeschehen eingegliedert haben und nicht jede Woche gegen die „Städtischen“ im Rathaus sticheln oder aufbegehren: eine Art „kleines rebellisches Dorf“ ist Oberndorf geblieben, wenigstens ein nicht geringer Teil seiner 2500 Bewohner. Das ist jedes Jahr auch beim „Walpurgisgericht“ zu hören, wenn die Oberndorfer Barden gar lästerliche und aufrührerische Lieder wider die Obrigkeit anstimmen, teils mit Texten aus dem Bauernkrieg.

Wenn die Stadt Schweinfurt seit Jahren praktisch schuldenfrei ist und gleichzeitig in den letzten 25 Jahren eine beachtliche Modernisierung seines Gebäudebestandes und seiner Infrastruktur gemeistert hat, wenn sie auch künftig Millionen aufbringen kann, um die Umwandlung der US-Militärflächen in sinnvolle zivile Nutzungen zu finanzieren, so haben die auf Oberndorfer Gebiet groß gewordenen Metall-Betriebe den größten Anteil daran: das einstige Dorf als Wiege heutigen Wohlstands.

Schweinfurter Stadtteile

Unsere Reporter sind in die Stadtteile gegangen, haben in Archiven geblättert und mit Anwohnern gesprochen. Herausgekommen ist eine Serie über das Wohnen, Leben und Arbeiten in Schweinfurt. Dörflich ist Oberndorf geprägt, das Bergl durch den sozialen Wohnungsbau. Haardt, Eselshöhe, Deutschhof und Zeilbaum stammen vom Reißbrett. Auch das Musikerviertel, das Hochfeld, der Steinberg, die Gartenstadt und das Gründerzeitviertel stehen für Epochen. Lange gewachsen sind Klingenbrunn, Höllental und Altstadt. Gewerbe und Industrie bestimmen Maintal, Hafen und Hainig. Die ehemaligen US-Liegenschaften mischen aktuell die Stadtentwicklung auf und sorgen für einen neuen Stadtteil am John-F.-Kennedy-Ring und den Ausbau der Fachhochschule in der früheren Ledward-Kaserne.

Alle Teile der Serie finden Sie gesammelt im Internet unter www.mainpost.de

Industrielles Wahrzeichen Schweinfurt-Oberndorfs: das ZF-Verwaltungsgebäude (vormals: Fichtel & Sachs).
Foto: Anand Anders | Industrielles Wahrzeichen Schweinfurt-Oberndorfs: das ZF-Verwaltungsgebäude (vormals: Fichtel & Sachs).
Feuerwehrhaus 4       -  Das alte Oberndorfer Feuerwehrhaus. Heute dient es für Versammlungen und Veranstaltungen.
Foto: Waltraud Fuchs-Mauder | Das alte Oberndorfer Feuerwehrhaus. Heute dient es für Versammlungen und Veranstaltungen.
Im Oberndorfer Künstlerhof: Ausstellung Glas, Glas pur, Kleid – im Jahr 2016.
Foto: Josef Lamber | Im Oberndorfer Künstlerhof: Ausstellung Glas, Glas pur, Kleid – im Jahr 2016.
Langsam schreitet die Sanierung von Oberndorf voran. Das Projekt Hauptstraße 40 wurde jüngst vom Bezirk ausgezeichnet.
Foto: Gerd Landgraf | Langsam schreitet die Sanierung von Oberndorf voran. Das Projekt Hauptstraße 40 wurde jüngst vom Bezirk ausgezeichnet.
 
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