Reinhold Jünger war bei keinem Betreiber des Atomkraftwerks Grafenrheinfeld jemals angestellt. Und doch ist er vermutlich jener Mitarbeiter, der am längsten dort gearbeitet hat. 47 Jahre war er als Wachmann bei Fremdfirmen für die Sicherheit am und rund ums AKW zuständig. Ihn kannten fast alle Beschäftigten, denn ohne Kontrolle kam niemand an ihm vorbei, nicht einmal die Chefs. "Alle waren fällig", sagt er schmunzelnd.
Der in Niederwerrn aufgewachsene, aber schon lange in Donnersdorf lebende Jünger ist vor zwei Jahren in den Ruhestand gegangen. Damals verabschiedete er sich mit den Worten: "Ich bin der Dienstälteste auf der Anlage." Bis dahin hatte er sein gesamtes Berufsleben in dem Werk verbracht. Geblieben sind die Erinnerungen an eine "schöne Zeit", meint der 67-Jährige in einem Gespräch mit der Redaktion. Besonders zu Beginn sei es sehr familiär zugegangen.
In den Anfangsjahren bewachte er eine Baustelle
Die Freude vieler über den aus seiner Sicht "übertriebenen" Ausstieg aus der Kernenergie mag er nicht teilen – und er hat auch ein Problem mit bestimmten Begrifflichkeiten. "Atomkraftwerk hört sich wie Atombombe an. Aber wir haben mit Energie zu tun gehabt. Deshalb bleibt es für mich das KKG, das Kernkraftwerk Grafenrheinfeld", stellt Reinhold Jünger gleich eingangs klar und betont dahingehend auch: "Ich hatte nie Sorgen, dass dort etwas passiert."
Sicher hat er sich jederzeit gefühlt, auch weil er fast vom ersten Tag des Baus dabei war. Im Juni 1975 fing er bei der Schweinfurter Wach- und Schließgesellschaft an, die zunächst mit der Bewachung beauftragt war. Die Firmen und damit seine Arbeitgeber wechselten mehrmals. Einzige Konstante beim Werkschutz blieb Reinhold Jünger.
Seine Zeit im AKW vergleicht er mit einem kompletten Lebenszyklus. "Ich habe die Schwangerschaft, die Geburt, das Aufwachsen und zuletzt das Sterben der Anlage miterlebt." Aus seinen Worten ist ein gewisser Stolz herauszuhören. Beeindruckend sei die riesige Baustelle gewesen, erinnert sich Jünger, und besonders das Zusammenschweißen der 56 Meter großen Stahlkugel, die den Reaktor umschließt.
Das alles musste er zusammen mit seinen Kollegen bewachen. Später, ab der Inbetriebnahme im Dezember 1981, waren sie für die Sicherung des gesamten Innen- und Außenbereichs zuständig, damit kein Unberechtigter auf das Gelände kam.
Kontrollen sorgten für Staus am Zugangstor
In Spitzenzeiten waren weit über 1000 Bauarbeiter am Bau beteiligt, ebenso bei den jährlichen Revisionen. Vor dem Betreten mussten alle kontrolliert werden. Regelmäßig hätte dies zu längeren Menschenschlange und Staus am Zugangstor geführt, weiß er zu berichten.
Noch intensivere Kontrollen fanden im Jahr 1991 während des ersten Golf-Kriegs statt. Damals sei die Gefährdungslage hochgestuft worden. "Da wurde dann eigentlich jeder richtig gefilzt", so Jünger.
In den Bau- und Anfangsjahren waren ihm zufolge die Sicherheitsvorkehrungen allerdings nicht so streng wie heute. Es gab nur einen einfachen Bauzaun rund ums Grundstück. Der sogenannte "Demo-Zaun" wurde erst später aufgestellt.
Auch die Kontrolltechnik wurde immer mehr perfektioniert. Und der Werkschutz hat sich ebenfalls verändert und professionalisiert. Er selbst hatte sich zur Werkschutzfachkraft weitergebildet.
Problematische Situationen hat es aus seiner Sicht kaum gegeben. Die Demonstrationen seien recht friedlich geblieben. Einmal flogen zwar Brandpfeile über den Zaun, ein anderes Mal musste er wütende Fremdarbeiter aus dem ehemaligen Jugoslawien, die auf der Baustelle beschäftigt waren, zurückhalten. Diese wollten auf Demonstranten losgehen, "mit Eisenstangen".
Noch immer unterliegt er der Geheimhaltungspflicht
Einer einzigen Person gelang während seiner 47 Jahre der unerlaubte Zugang auf das Areal. Beim Übersteigen über den bereits mit Stacheldrahtrollen gesicherten Zaun verletzte sie sich erheblich. An dieser Stelle des Gesprächs weist der Ex-Mann vom Sicherheitsdienst darauf hin, dass er immer noch der Geheimhaltung unterliegt. Über sicherheitsrelevante Informationen darf er selbst als Rentner nicht sprechen.
Auch nicht über meldepflichtige Ereignisse. Nur über einen kritischen Moment gibt er Auskunft. Kurz nach der Nuklearkatastrophe im damals sowjetischen AKW Tschernobyl, im April 1986, standen Mitarbeiter einer Firma aus Österreich, die zu Revisionsarbeiten kamen, am Eingangstor und warteten auf ihre Sicherheitsüberprüfung.
Als sie an der Reihe waren, sei plötzlich ein höllisch lauter Alarm losgegangen und der Zugang zum Werk komplett gesperrt worden, erinnert sich Jünger nur zu gut daran. "Die waren so kontaminiert, dass sie nicht aufs Gelände durften. Mit diesen hohen Strahlenwerten wären sie nie und nimmer wieder herausgekommen."
Ohne die Kühltürme wird etwas fehlen
Eigentlich war die Messanlage dafür eingerichtet worden, dass niemand radioaktives Material aus dem Werk schmuggelt. Offenbar, so vermutete der Strahlenschutz damals, seien die Arbeiter zuvor in ihrer Heimat zu lange im Regen gestanden und dem radioaktiven Niederschlag ausgesetzt gewesen. Nach einer Dekontaminierung durften sie schließlich doch ins Werk. "Das war der einzige derartige Fall in meinem Berufsleben."
Nachdem der Ausstieg aus der Kernenergie 2011 beschlossen war, beschäftigten ihn und andere Mitarbeiter eine Frage sehr: "Warum schalten wir unsere sicheren Werke ab – und Länder um Deutschland mit nicht so hohen Sicherheitsstandards nicht? Wir mussten diese Entscheidung akzeptieren, aber wir wollten es nicht."
Der Tag der Stilllegung des AKW am 27. Juni 2015 hatte nicht nur bei ihm ein "komisches Gefühl" ausgelöst. An manchen Tagen habe ihn das Herz geblutet, wenn er danach zur Arbeit ging. Jetzt, vor der Sprengung der Kühltürme, die am 16. August erfolgen soll, ergeht es ihm ähnlich.
Mit dem Abstand von zwei Jahren im Ruhestand und sieben Jahren, die er den Rückbau vor Ort verfolgte, betrachtet er die ganze Sache etwas nüchterner. "Es wird eh alles abgebaut. Dann müssen die Kühltürme nicht unbedingt stehen bleiben. Aber es ist traurig." Ohne sie, glaubt er, werde etwas fehlen.