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Ostheim
Was, wenn in der Rhön kein Notarzt mehr kommt? Woran das Rettungssystem krankt und wie es gesunden könnte
Als Ärztlicher Leiter Rettungsdienst kennt sich Georg Kochinki mit Notlagen aus. Die Notfallversorgung, sagt er, könnte gerettet werden – würde zeitnah gehandelt.
Idyllische Aussicht: Notarzt Dr. Georg Kochinki schaut vom Ostheimer Segelflugplatz auf seinen Einsatz-Standort. Weniger idyllisch sind die statistischen Einblicke, die eine Notarztstudie des Innenministeriums gewährt. Demnach sind immer mehr Notarzt-Standorte immer öfter unbesetzt. Auch und vor allem in den Rhön-Landkreisen.
Foto: Heiko Becker | Idyllische Aussicht: Notarzt Dr. Georg Kochinki schaut vom Ostheimer Segelflugplatz auf seinen Einsatz-Standort. Weniger idyllisch sind die statistischen Einblicke, die eine Notarztstudie des Innenministeriums gewährt.
Ines Renninger
 |  aktualisiert: 08.02.2024 10:57 Uhr

Immer mehr Notarzt-Standorte sind immer öfter nicht besetzt. Auch und vor allem in den Rhön-Landkreisen. Die Notfallversorgung selbst ist zur Patientin geworden. Das bayerische Innenministerium hat auf die Entwicklung reagiert und eine Notarztstudie mit Reformideen veröffentlicht. Vom Ergebnis zeigt sich der Ärztliche Leiter Rettungsdienst im Rettungsdienstbereich Schweinfurt, Dr. Georg Kochinki aus Stockheim, wenig begeistert. Das System müsse umstrukturiert werden – aber anders.

Frage: Dr. Kochinki, eine kurze Ersteinschätzung bitte! Wie krank ist das Notarzt-System?

Georg Kochinki: Es ist eineinhalb Minuten vor oder vielleicht auch schon fünf nach zwölf! Es ist wirklich an der Zeit, richtige und verträgliche Entscheidungen zu treffen. Zeitnah, bevor dieses ganze Notarzt-System nicht mehr zu retten ist.

Was qualifiziert Sie dazu, der Notfallmedizin eine Diagnose zu stellen?

Kochinki: Als Arzt und Notfallmediziner praktiziere ich seit einem Vierteljahrhundert, immer in derselben Ecke Rhön-Grabfelds. Ich kenne diese Region wie meine Westentasche. Mit einer halben Stelle arbeite ich seit knapp 13 Jahren als Ärztlicher Leiter Rettungsdienst im Rettungsdienstbereich Schweinfurt und bin da für die Qualitätssicherung zuständig. Die restliche Zeit bin ich Anästhesist, Intensiv- und Notfallmedziner am Zentralklinikum Suhl, dort bin ich seit 17 Jahren tätig. Ich arbeite bundesländerübergreifend in der Luftrettung. Über die Ländergrenzen nach Thüringen und Hessen zu blicken, erweitert den Horizont enorm. Das ermöglicht mir eine notfallmedzinisch besondere Perspektive.

Was ist das Grundproblem im Notarzt-System?

Kochinki: Die zunehmende Besetzungsprobleme der Notarzt-Standorte, vor allem im ländlichen Raum. Der höchste Rückgang von über 55 Prozent der im Dienstplan-Programm im Rettungsdienstbereich Schweinfurt erfassten Notärzte und Kliniken verzeichnen wir in den Landkreisen Rhön-Grabfeld und Bad Kissingen. Spitzenreiter mit 2328 unbesetzten Dienststunden war im Jahr 2021 Hammelburg (Lkr. Bad Kissingen) und mit 2259 unbesetzten Dienststunden der Notarzt-Standort Bad Königshofen (Lkr. Rhön-Grabfeld).

Er liebt den Job, den er tut: Trotzdem wünscht sich  Georg Kochinki aus Stockheim eine Systemreform. 
Foto: Heiko Becker | Er liebt den Job, den er tut: Trotzdem wünscht sich  Georg Kochinki aus Stockheim eine Systemreform. 
Gibt es schon heute Notfälle, bei denen kein Notarzt kommt, obwohl es einen bräuchte?

Kochinki: Ja, gibt's. Fronleichnam 2023 waren bis zwei Tage vor dem Feiertag alle vier Notarzt-Standorte in Rhön-Grabfeld unbesetzt. Kurz vor knapp ist es dann doch noch gelungen, einen Notarzt für Bad Neustadt zu rekrutieren, alle anderen Standorte blieben an diesem Tag unbesetzt. Fahren Sie mal von Bad Neustadt nach Frankenheim, ins Dreiländereck oder auf die Rother Kuppe – das dauert! Und notfallmedizinische Hilfe aus der Luft, also ein Hubschrauber aus den umliegenden Rettungshubschrauber-Standorten, ist nicht immer die Lösung. Akutmedizin aus der Luft ist wetterabhängig. Das geht in der Regel nicht immer nachts und nicht bei schlechtem Wetter.

Weshalb wollen so viele Ärzte keine Notarztdienste mehr übernehmen?

Kochinki: Prinzipiell geht ja die Zahl der Ärzte im ländlichen Raum zurück, Stichwort Generationenwechsel. Am Notarztstandort Mellrichstadt tun potenziell sieben Kollegen Dienst. Vier davon machen das seit rund einem Vierteljahrhundert. Leider ist seither niemand nachhaltig dazu gekommen. Wenn Methusalems der Notfallmedizin in den Ruhestand gehen, entsteht eine Riesen-Lücke. Viele der älteren Kollegen haben den Dienst mit großem Idealismus und einem ganz bestimmten Berufsethos geleistet, die jungen Kollegen blicken dagegen zurecht auf ihre Work-Life-Balance. Das sind Menschen, die berechtigterweise auch mal Feierband und Zeit für ihre Familie wollen. Eine Woche Notarzt-Dienst am Stück zu machen, ist halt ein Commitment: Da gehst du mit dem Melder in der Tasche auf Toilette und an den Abendbrottisch zu deinen Kindern. Heute Nacht um 2 Uhr war ich eineinhalb Stunden zum Notarzt-Einsatz in Eußenhausen. Da fehlt dir ein Stück Nacht. Zuschläge gibt es dafür nicht. Meine Kinder wecken mich trotzdem morgens um 6.30 Uhr.

Müssten Notarzt-Dienste besser bezahlt werden?

Kochinki: Mein heutiges Honorar ohne Notarzt-Einsätze in 24 Stunden Dienst: 608,58 Euro brutto. Im Schnitt sind das 12,50 Euro pro Stunde. Gehen Sie nach Thüringen oder an die Notarzt-Börse bekommen sie deutlich mehr. Eine bayerische Kollegin, alleinerziehende Mutter, versieht ihre Dienste inzwischen in Thüringen. Was sie in Bayern bekäme, verdient sie dort in der Hälfte der Zeit. Die Wertschätzung funktioniert über viele Bausteine. Das Land Bayern stellt, anders als Thüringen, beispielsweise auch keine Ausstattung wie Sicherheitsschuhe oder Notarztbekleidung.

Im Herbst vergangenen Jahres veröffentlichte das Bayerische Innenministerium eine Notarztstudie, die eine Reform des Notarztsystems andenkt. War die dann nicht dringendst angezeigt?

Kochinki: Der Gedanke, das System in irgendeiner Form zu reformieren, ist richtig. Nur: Wir müssten Papiere produzieren, auf deren Ergebnissen Entscheidungen fußen können. Wenn ich diese Notarztstudie 2021 mit ihren über 300 Seiten querlese, denke ich mir: Das hätte man sich sparen können!

Warum?

Kochinki: Der statistische Wert der Studie ist sicherlich exzellent. Allerdings hat man die Leute vor Ort nicht mitgenommen und auch nicht jene befragt, die an unterschiedlichsten Ecken an der Notarzt-Front stehen. Das Land Bayern ist riesig, das kann man nicht alle Regionen über einen Kamm scheren. Auch fußt die Studie auf Dingen, die so noch gar nicht implementiert sind. Sie setzt beispielsweise ergänzend auf das Telenotarztsystem. Bis dato gibt es aber noch keinen einzigen ausgebildeten Telenotarzt in Bayern. Die Landesgrenzen sind wie ein Zaun. Thüringen und Hessen sind für die Notarztstudie Bayern totes Land, das wird gedanklich nicht miteinbezogen. 

Das Planungsszenario sieht für den Landkreis Rhön-Grabfeld eine Streichung der Notarztstandorte Bischofsheim und Mellrichstadt vor. Stattdessen soll ein neuer Notarztstandort in Bastheim errichtet werden. Wie sinnvoll ist das?

Kochinki: Das macht jemand, der sich von Algorithmen und künstlicher Intelligenz leiten lässt und in seinem Leben noch nie in der Rhön war. Das ist für mein Empfinden Unsinn. Da werden statistische Berechnungen angestellt und gesagt: Bastheim passt! Aber die Algorithmen können sagen, was sie wollen: Von Bastheim durch den Salzforst mit Blaulicht auf den Kreuzberg zu fahren, eventuell durch die verschneite und vereiste Rhön – das ist eine Bankrott-Erklärung. Laut Studie soll auch der Notarzt-Standort in Hofheim gestrichen werden. Der war zu Zeiten der Studie einer der bestbesetzten Standorte im Rettungsdienstbereich Schweinfurt, mit Ausfallzeiten von 3 Stunden im Jahr. Damit war der Ausfall dort niedriger als bei der Berufsfeuerwehr in München. Nun soll der eh schon schlecht besetzte Standort in Bad Königshofen künftig den eigentlich ausgelasteten Standort Hofheim in Teilen mit abdecken, weil dort die Sense angesetzt wird. Das ist absurd.

Tun sie als Notarzt dann künftig statt in Mellrichstadt in Bastheim Dienst?

Kochinki: Bislang kann ich mich als  Notarzt an meinem Standort Mellrichstadt komplett frei bewegen.  Nein, ich setze mich in meiner Freizeit nicht auf irgendeine Wache und warte auf Einsätze. Nahezu alle Kollegen sind meiner Meinung. Keiner würde in Bastheim Dienst tun. Einer sagte mir kürzlich in einem Telefonat: "Prima, da wird mir die Entscheidung aufzuhören, abgenommen." 

Was wären Reformen, die tragen könnten?

Kochinki: Meine Idee: Verantwortung in die Hände der Basis zurückspielen. Wir brauchen keine Münchner Studie, die die Lebensrealitäten vor Ort nicht kennt. Wir im nordöstlichen Zipfel Bayerns können selber laufen. Durch Formalien und Regularien machen wir uns manche Probleme selber. Es braucht mehr Entscheidungsfreiheit, den ein oder anderen Notarzt mit seinen individuellen Bedürfnissen zu gewinnen. Mit den Ressourcen, die wir vor Ort noch haben, sollten wir flexibel und sorgsam umgehen. Außerdem müssen wir über Landesgrenzen hinweg denken. Die finanziellen Rahmenbedingungen sollten verbessert werden. Ich bin der Ansicht, Notarzt-Dienstpläne müssen wir dezentral machen, so wie es früher war. Es braucht einen Obmann vor Ort, der seine Pappenheimer kennt und sich verlässlich kümmert. Dann ist viel möglich – bei unveränderter Standortstruktur. Eine andere Möglichkeit: Man setzt auf hauptberufliches Personal. Die Notarzt-Dienste in der aktuellen Struktur werden zu 100 Prozent aus der Freizeit heraus geleistet. Man muss sich auch die Frage stellen, ob das Konzept "Freizeitbeschäftigung Rettungsdienst" noch zeitgemäß ist. 

Wer entscheidet nun, ob und inwiefern die Notarztstudie umgesetzt wird?

Kochinki: Die Studie formuliert zentralbayerische Rahmenbedingungen. Diese Planungsszenarien sollen von den Zweckverbänden vor Ort ausgestaltet werden. Aber in der Verbandsversammlung der Zweckverbände sitzen wieder keine Praktiker, sondern Landräte und deren Stellvertreter. Die gilt es nun, in ihrer Entscheidungsfindung möglichst gut zu beraten. Der Zweckverband Schweinfurt gründet derzeit eine Arbeitsgruppe, um das Planungsszenario mit Inhalt zu unterfüttern. 

 
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