Hätte Bad Neustadts Zwiebelgasse 5 eine Seele – man müsste sie kennenlernen! Unterm alten Torbogen mit der Jahreszahl 1753 müsste man sie treffen, die Zeugin lebendigster Stadtgeschichte. Die Zwiebelgasse 5 war Heimstatt fürs Handwerk genauso wie für Kunst und Kultur. Es war ein Ort der Gesundung, der sich nicht scheute, Krankheit zu beherbergen. In den Zimmern wurde geboren und gestorben. Vor allem aber gelebt.
"Es gab Tage, an denen ich dachte, das wilde Heer zieht durch", erinnert sich die frühere Hausherrin Giesela Sendner daran, wie ihre Kinder durch die Treppenhäuser tobten. Weil die Seele der Zwiebelgasse schweigt, muss die 78-Jährige Zeugnis ablegen. Jahrhundertelang war das Haus im Besitz der Familie ihres inzwischen verstorbenen Mannes, Robert Sendner. Noch immer wohnt Giesela Sendner in einer Wohnung im zweiten Stock, mittlerweile zur Miete. Mit dem aktuellen Hausbesitzer Mustafa Kemal Akgül und dessen Familie, die in der Nachbarschaft lebt, verbindet sie eine freundschaftliche Beziehung.
"Reingschmeckte" nennt sich Giesela Sendner , alle anderen sagen "Bad Neustädter Urgestein"
Eine "Reingschmeckte" nennt sich Giesela Sendner selbst, "Bad Neustädter Urgestein" würden vermutlich alle anderen zu ihr sagen: Denn auch wenn die 78-Jährige nicht in Bad Neustadt geboren ist, hat sie sich über Jahrzehnte um die Stadt verdient gemacht – als Stadträtin, sozial Engagierte, Kunstförderin – um nur einige Punkte zu nennen.
1970 war sie als Redakteurin der Main-Post nach Bad Neustadt gekommen, um eine Krankheitsvertretung zu übernehmen, und schließlich "der Liebe wegen" geblieben: Zeitnah folgte sie ihrem Mann Robert Sendner in dessen Familienanwesen in die Zwiebelgasse 5, wo sie seither lebte.
Der Mann, der den ersten Dönerladen Bad Neustadts eröffnete: Mustafa Akgül
Auch Mustafa Kemal Akgüls Herz schlägt für Bad Neustadt. Vor 30 Jahren eröffnete er, damals noch unter dem Namen "Fantasia", Bad Neustadts ersten Dönerladen. Akgül packt an, was manch Alteingesessener nicht wagt. Vor zwei Jahren erwarb er das Jahrhunderte alte Haus in der Zwiebelgasse 5 und haucht ihm seitdem neues Leben ein.
"Er hatte gut zu tun", weiß Giesela Sendner – bucklig, krumm und voller Überraschungen, wie das Haus sei. "Die Leute in Deutschland haben Angst vor solchen Vorhaben, weil es viel kostet", sagt Akgül und führt durch die in Teilen bereits sanierten Räume, "aber wenn du es selber machst, kann man es finanzieren". Eigentlich, sagt Akgül, sei er Koch, doch er habe auch in vielen deutschen Städten als Trockenbauer gearbeitet. Bleiben wollte er in Bad Neustadt, da hat's ihm gefallen, dort ließ sich der heute 55-Jährige letztlich mit Frau und inzwischen sechs Kindern nieder.
Was der aktuelle Hausbesitzer Mustafa Akgül mit der Zwiebelgasse 5 plant
Einziehen werde er selbst in die Zwiebelgasse 5 nicht, die Wohnungen werden vermietet. Ins Erdgeschoss soll wieder ein Gewerbe. Welches, sei noch nicht spruchreif. Ursprünglich hatte Akgül, der in der Roßmarktstraße den Imbiss Troja-Grill betreibt, einen Frühstückssalon eröffnen wollen. Doch dann machte ihn seine Tochter, die das federführend umsetzen sollte, zum Großvater, weshalb das Projekt vorerst auf Eis liegt.
"Manchmal spielt das Leben anders", weiß Giesela Sendner, die Ende der 70er Jahre als zweifache Mutter mit viel Herzblut eine Buchhandlung samt Kunstgalerie in dem Haus eröffnet hatte. Bad Neustadts kulturelles Leben war anschließend zehn Jahre lang in der Zwiebelgasse 5 beheimatet. "Es war eine gute Zeit, aber es hat mich auch viel Kraft gekostet."
Buchhandlung, Kunstgalerie, Verlagssitz: Die Zwiebelgasse 5 als Ort von Kunst und Kultur
In den 80ern organisierten die Sendners Lesungen und Kunstausstellungen – mit maximalem Einsatz. Auch der Verlag "sendner & neubauer" mit dem Schwerpunkt Bad Neustädter Stadtgeschichte, den Giesela Sendner zusammen mit ihrem Kollegen in dieser Zeit gründete, hatte seinen Sitz in der Zwiebelgasse 5.
Sender hatte nie Wochenenden, selten Nacht-Ruhe. Irgendwann sei bei aller Begeisterung für die Sache die Frage nicht mehr zu ignorieren gewesen: "Was bleibt am Monatsende übrig?" 1989 verkauften die Sendners die Geschäftsräume in der Zwiebelgasse 5 an das Sanitätshaus Traub. Wohnen blieben sie in den oberen Stockwerken. 2022 erwarben dann Akgüls das ganze Haus.
Drei Generationen von Schneidermeistern lebten in der Zwiebelgasse 5
Doch zurück zu den Anfängen der Zwiebelgasse 5: Ursprünglich war das Haus landwirtschaftliches Anwesen, später zogen nach und nach Kaufläden im Umfeld ein, die Gegend war ein völlig "autarkes Viertel", so Sendner.
Die Zwiebelgasse 5 selbst beherbergte ab 1893 drei Generationen Schneidermeister der Familie Fick. Eine Tradition, die hätte weitergeführt werden sollen, wäre Schneidermeister Josef Fick, Robert Sendners Patenonkel, nicht 1943 in Russland gefallen. Weshalb die Schneidermeister-Dynastie in der Zwiebelgasse 5 mit dem Tod von Hugo Fick, Robert Sendners Großvater, 1949, endete.
Die Schneidermeister starben aus, das Leben ging weiter: Während des Zweiten Weltkriegs waren verschiedene Flüchtlingsfamilien in der Zwiebelgasse 5 einquartiert, darunter die Apothekerfamilie Eugen und Brigitte Kaspar. An die Kaspars vermieteten Robert Sendners Eltern Anna (geborene Fick) und Heinrich Sendner, er war Gymnasiallehrer, 1949 das Erdgeschoss als Apotheke. Zehn Jahre lang wurde die Zwiebelgasse 5 Ort der Gesundung. Ende der 50er zogen die Kaspars dann mit ihrer "Marien-Apotheke" in einen Neubau in der Roßmarktstraße.
Ein Geist des Willkommenseins war durchgehend in der Zwiebelgasse 5 zu Hause
So vielfältig die Hausnutzungen im Laufe der Jahrhunderte waren, so häufig die Bewohner gewechselt haben – was in der Zwiebelgasse 5 durchgehend erhalten blieb, war ein Geist des Willkommenseins. Die Haustür der Zwiebelgasse 5 stand immer für Gäste offen, erinnert sich Giesela Sendner: Gelockt hätten nicht nur der berühmte Käsekuchen von Augusta Fick, der Großmutter ihres Mannes, und die Riesenschüsseln mit marinierten Heringen von Anna Sendner, ihrer Schwiegermutter, sondern auch der zentrale Einrichtungsgegenstand im Wohnzimmer im 1. Stock: der Schachtisch Heinrich Sendners, des Schwiegervaters.
Heimatliebe und Weltoffenheit waren auch die beiden Eigenschaften, die Gieselas Ehemann Robert Sendner vereinte. Bei nahezu allen Städtepartnerschaften Bad Neustadts war Robert Sendner eine tragende Säule. 2022 starb Robert Sendner nach längerer Krankheit, wo er gelebt hatte: mitten in Bad Neustadt, in der Zwiebelgasse 5.
Bei einem kleinen Rundgang mit Mustafa Akgül sieht Giesela Sendner die Räume ihrer Vergangenheit in neuem Licht: "Sehr schön haben Sie das gemacht!", lobt sie. "Was die Häuser in der Altstadt für ein Potenzial haben!"
Am Ende schließt sich ein Kreis: Was die Familien Sender, Kaspar und Akgül verbindet
Wie sehr sich mit Akgüls Kauf des Hauses ein Kreis schloss, wird, ganz nebenbei, beim Fototermin klar: "Wie eine Mutter" sei Frau Kaspar von der Marien-Apotheke für ihn gewesen, erzählt Mustafa Akgül über die inzwischen Verstorbene und sein gutnachbarschaftliches Verhältnis zu ihr. Als die Apothekerfamilie Kaspar Ende der 50er mit ihrer "Marien-Apotheke" wenige Meter weiter in die Roßmarktstraße zog, hat sie offenbar etwas Entscheidendes aus der Zwiebelgasse mitgenommen: die wohlwollende Einstellung "Reingschmeckten" gegenüber.
Vielleicht, weil sie selbst viel einheimische Unterstützung bei ihrem Neuanfang nach dem Krieg erfahren hatten? Das Haus in der Zwiebelgasse 5, von dem so viel Gutes ausging, Akgüls wollen es weiterführen.