Am Ende steht dieser berührende Blick ins Leere. Ein grauer Glanz liegt über den Augen des toten Rehs, die in ein Nirgendwo schauen. Das Wildschwein, auf grüne Tannenzweige gebettet und schon ausgenommen, dampft noch aus dem aufgeschlitzten Bauch. "Sau tot", das alte Jagdhorn-Motiv, schallt vierstimmig durch das Revier am Schweinberg. Die Jagd ist zu Ende. Das Leben von 21 Rehen und 16 Sauen ist zu Ende. Und doch ist alles der Anfang von etwas Neuem.
Gute drei Stunden hatte Oliver Kröner auf seinem Hochsitz ausgeharrt. Die Stufen hinauf waren glitschig vom Raureif an diesem Wintermorgen. Das Waldstück im Revier Schweinberg bei Rödles unweit der B 279, in dem ihm für diese Drückjagd ein Ansitz zugewiesen worden war, es war nicht so nach eines Jägers Geschmack. Eine zu gute Sicht, kein Dickicht. "Hier laufen die Tiere höchstens schnell durch, um wieder Deckung zu finden", hatte es Kröner prophezeit.
Strenge Regeln für die Drückjagd
Genug Zeit zum Zielen werde er nicht haben. Schließlich könne man nicht einfach drauflosschießen, wenn ein Stück Wild vor die Flinte kommt. Revierleiter Heiko Stölzner hatte es zu Beginn der Drückjagd den rund 80 Jägern, darunter zwei Frauen, mit ernstem Ton eingeschärft: Erst auf den Nachwuchs, keine Muttertiere, und bei den Rehen keine Böcke schießen!
80 Jäger und Jägerinnen in einem Revier, das fordert eine strenge Ordnung, damit die Sicherheit gewährleistet ist. Also wurde die Jagdgemeinschaft auf dem Parkplatz des Burgwallbacher Sees minutiös eingewiesen. Die sogenannten "Ansteller" begleiteten die Jäger zu ihren Ansitzen. "40 Ansitze haben wir ausgewählt", weiß Alfons Freibott aus Strahlungen zu berichten.
Bei einer Drückjagd sind Ansteller wie er wichtige Posten. Sie führen Buch über die Zahl der Jägerinnen und Jäger, sie haben die Karten mit den eingezeichneten Ansitzen und sie zählen das Wild, das bei der Drückjagd gesichtet und erlegt wurde.
Mit dem Nato-Kaliber auf den Ansitz
Angeführt von den Anstellern machen sich die Fahrzeugkolonnen auf den Weg zu ihren Hochsitzen rund um die Schweinberg-Haus. Durch die schlammigen Waldwege krallen sich die Allradfahrzeuge. Die Jagdhunde sind voller Vorfreude auf ihre große Aufgabe. Wie die anderen auch, richtet Oliver Kröner seinen Ansitz ein: Das Repetiergewehr mit dem Nato-Kaliber 5,7 Millimeter wird über das Geländer gelegt, der Proviantsack deponiert, ein Sitzkissen platziert, das Tarnnetz um die Sitzfläche drapiert.
Es soll auch den kalten Wind abwenden, der giftig durch die Holzritzen bläst. Den Spezialisten wie Heinrich Höllerl aus Rieneck ist der sogenannte Klettersitz vorbehalten. Mit Kletterseil geht es dabei auf einen brauchbaren Baum, um von dort aus nach dem Wild zu schauen. Für den Notfall müssen sogar ausgebildete Höhenretter mit vor Ort sein.
Pünktlich mit dem Start, die Jagdleiter Heiko Stölzner festgesetzt hat, setzen sich die Hunde in Bewegung. Es sind rund 35 Tiere. Ihr Bellen und Jaulen hallt durch den Wald. Die Jagdhunde sind die wichtigsten Helfer bei einer Drückjagd. Ihre Aufgabe ist es, das Wild aus seiner Deckung aufzustöbern. Also rennen die Tiere voller Jagdlust hin und her. Sie kläffen und gauzen, was das Zeug hält. Dann folgt Stille für lange, kalte Minuten. Und plötzlich kracht irgendwo ein Schuss.
Von Amberg in die Rhön zum Jagen
Ein orange-blaues Etwas kreuzt vielleicht 200 Meter unterhalb den Ansitz von Oliver Kröner. Aus dem Rücken des Jagdterriers ragt eine Antenne. Das ist Emba, die begeisterte Jägerin aus Michelfeld bei Amberg. Die Schnauze schon ergraut, ist sie so etwas wie die Grande Dame der Jagdhunde-Gruppe. Ihr Frauchen Ann-Sophie Kraus hat ihr wie immer die Schutzweste aus Kevlarstoff angezogen. "Das schützt das Tier vor den Hauern einer Wildsau und auch vor Stößen", weiß Jägerin Ann-Sophie Kraus, im Hauptberuf Tierärztin im landwirtschaftlichen Bereich. Es gibt sogar Tiergatter mit Wildschweinen, in denen angehende Jagdhunde sozusagen den Umgang mit Schwarzwild erlernen.
Wo Emba die Sauen, Rehe und das Rotwild gerade aufspürt, weiß Ann-Sophie Kraus zu jedem Zeitpunkt. Emba trägt einen GPS-Sender und ihr Frauchen den Empfänger dazu. Am Ende dieser Rhöner Drückjagd wird der Sender elf Kilometer anzeigen, die Terrier-Dame Emba über Stock und Stein gerannt ist, damit den Jägern ein Stück vor Kimme und Korn erscheint. Erfahrung macht die Jagdhunde unersetzlich, mitbringen müssen sie aber schon ein grundlegendes Talent.
Die Zahl der Jägerinnen nimmt zu
Erco ist etwas neidisch auf Emba. Denn als Nachsuche-Hunde muss er sich bis zum Ende der Drückjagd zurückhalten, um sich dann ausgeruht auf die richtige Fährte zu kommen. Das eine oder andere Wild kann nach einem Treffer noch weiterlaufen und muss aufgespürt werden. "Es ist vor allem der Umgang mit den Hunden, der mich an der Jagd so fasziniert", sagt Ann-Sophie Kraus. Sie bemerkt übrigens, dass es immer mehr Frauen gibt, die ihren Jagdschein machten und Freude an der Jagd haben. Von einer reinen Männerwelt könne nicht die Rede sein.
Die Belohnung für die Laufbereitschaft der Tiere ist nährstoffreiches Kraftfutter, das Emba, Erco und Hera schlabbernd nach getaner Arbeit aus den Näpfen fressen. Die Belohnung für das geduldige Ausharren in der Kälte fällt für Oliver Kröner dagegen bescheidener aus. Alles Stillsein nutzt wenig. Auch nicht der konzentrierte Blick rund um den Ansitz, ob sich irgendwo hinter den Bäumen, irgendwo im Gesträuch die Umrisse eines Wildes entdecken ließen. Die Kälte hat sich in Genick und Schuhwerk gekrochen.
Nicht jede Jagd ist ein Erfolg
Immerhin regnet es nicht stundenlang wie erst eine Woche zuvor bei einer anderen Jagd. Aber für das geduldige Warten gibt es kein Jagdglück im Tausch. Ein Reh lief kurz durch die Szenerie auf der Flucht vor Jagdhund Emba. Und später trabten noch drei Wildschweine vorbei. Keine Chance, die Tiere gewissenhaft zu betrachten, ob sie zum Abschuss freigegeben sind. "Im Durchschnitt erlegt man bei jeder zweiten Jagd ein Stück", sagt Oliver Kröner. Später, beim Legen der Strecke vor der Schweinberg-Haus, sollte seine Modellrechnung soweit korrekt gewesen sein. Rund 80 Jäger, etwas über 30 Tiere, die Bilanz stimmte am Ende.
Der Klimawandel macht in den Revieren nicht Halt
Dabei ging es im Revier Schweinberg nicht alleine darum, Glücksgefühle zu schaffen. Gejagt wird auch, und das immer mehr, weil das Leben in den Wäldern gesteuert werden muss. Wildtiere sind auch Kulturfolger und können den Landwirten Ärger bereiten. Vor allem aber profitieren sie vom Klimawandel und milderen Wintern. Wildschweine vermehren sich plötzlich das ganze Jahr über, das Wild nimmt immer mehr zu. Ein Problem, wenn die Forstbetriebe auch in der Rhön gerade dabei sind, durch den Waldumbau die Wälder für den Klimawandel fit zu machen durch Baumarten, die den wärmeren Temperaturen besser trotzen.
"Jagen bedeutet auch, den Wald zu schützen", meint Oliver Kröner. Er leitet das Amt für Landwirtschaft, Ernährung und Forsten in Bad Neustadt. Die Fichten verschwinden, weil es ihnen zu warm wird, der Borkenkäfer schlägt immer wieder zu. Wenn sich dann noch Wildtiere an jungen Trieben oder Rinden zu schaffen machen, dann nimmt das Unglück seinen Lauf. "Die Kalamitätsflächen durch Äsung nehmen zu", sagt Kröner. Gemeint sind geschädigte Waldstücke.
Wild als gesundes Nahrungsmittel praktisch in Bio-Qualität
Auf der anderen Seite wollen auch die Jäger nicht einfach so Wild erlegen. Immerhin geht es um ein gesundes Nahrungsmittel praktisch in Bio-Qualität. Werden mehr Tiere geschossen, müsse auch mehr Wild gegessen werden. Kundinnen und Kunden in der Region könnten dabei mit moderaten Preisen rechnen, das gleiche Stück koste in der Großstadt schnell erheblich mehr.
Auch am Hochsitz von Oliver Kröner zeigt das Handy irgendwann 13 Uhr an, das Ende der Drückjagd. "Früher schallte ein Jagdhorn-Signal durch den Wald, heute hat aber jeder sein Smartphone", sagt Kröner. Also packt er seine Sachen, steigt vorsichtig die Stufen hinab, läuft zurück zum Waldweg und wartet auf den Ansteller, der seine Jägerinnen und Jäger wieder einsammelt. Er achtet peinlich genau darauf, dass keiner vergessen wird und dass das erlegte Wild auf den Formularen richtig eingetragen wird.
Ein wärmendes Feuer ist entzündet am Schweinberg-Haus. Die Strecke, also die Reihe erlegter Tiere, ist zu einem Kreis geformt rund um den Eichenbaum in der Mitte, an dem eine Gedenktafel die Arbeit des langjährigen Revierförsters Josef Rieken würdigt. Der ist selbst gekommen, um sich ein Bild vom Treiben in seinem ehemaligen Revier zu machen. "Es lagen auch schon 90 Sauen nach einer Treibjagd hier", erinnert sich Rieken, der schon in seiner Amtszeit mit dem Waldumbau begann und aus reinen Nadelwaldbeständen Mischwald machte.
Am Schweinberg-Haus ist die Stunde der Rituale gekommen. Ohne die geht es nicht an den Schwellenstufen der Existenz wie Geburt, Nahrungsgewinnung und Tod. Vier Jagdhörner erklingen. Den toten Rehen wurden kleine Tannenzweige ins Maul geheftet. Bruch nennen das die Jäger, es steht symbolisch für die letzte Mahlzeit des erlegten Tiers. Einen solchen Bruch bekommen auch die erfolgreichen Jäger vom Jagdleiter Stölzner an den Hut geheftet.
An fast senkrechten sogenannten Aufbrechbahnen werden derweil noch Tiere ausgenommen, dabei werden auch Blutproben entnommen. Niemand will, dass die Afrikanische Schweinepest in die Region kommt, also wird geschossenes Wild streng überprüft. Nach dem Zeremoniell von Hörnerklang und Waidmannsheil löst sich die große Drückjagd-Gruppe schnell auf. Tiere müssen weiterverarbeitet werden, das eine oder andere Grüppchen trifft sich zu einer Stärkung nach den Stunden in der Kälte.
In das Revier am Schweinberg ist wieder Ruhe eingekehrt. Ab und an hört man einen Kolkraben rufen mit seinem geheimnisvollen Ton. Die Tiere des Waldes sind wieder mit sich allein. Solange, bis die Jäger wiederkommen zum großen Halali.