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Oberelsbach
Das Forschungsprojekt Green Care zeigt: Die Rhöner Natur stärkt nachweislich die psychische Gesundheit
Hilft Naturerfahrung gegen Depressionen? Fünf Jahre forschte Psychologin Katharina Thümer im Biosphärenreservat Rhön zu Naturtherapien. Das sind die Ergebnisse.
Inwiefern kann die Natur Menschen mit psychischen Erkrankungen helfen? Psychologin Katharina Thümer (im Bild bei der Dokumentation von Ergebnissen) forschte dazu fünf Jahre in der Rhön. Inzwischen ist das Projekt Green Care abgeschlossen. 
Foto: Maik Prozeller | Inwiefern kann die Natur Menschen mit psychischen Erkrankungen helfen? Psychologin Katharina Thümer (im Bild bei der Dokumentation von Ergebnissen) forschte dazu fünf Jahre in der Rhön.
Ines Renninger
 |  aktualisiert: 05.08.2023 03:00 Uhr

Zehn Minuten? Zwei Stunden? Wie lange sitzt sie schon unter diesem Baum in der Rhöner Wildnis? Katharina Thümer weiß es nicht. "Diese Weitläufigkeit der Zeit", sagt die Psychologin, habe sie sofort fasziniert, als ihr Maik Prozeller, Ranger am Biosphärenreservat Rhön, zu Beginn des Modell-Projekts Green Care Elemente aus der Wildnispädagogik vorstellte. 

Beim "Sitzplatz", einer zentralen Wahrnehmungsübung der Wildnispädagogik, sucht sich jede Teilnehmerin und jeder Teilnehmer einen Platz in der Natur und beobachtet die Umwelt. "Das wirkt wie eine supersimple Methode", erklärt Thümer, "aber, was dabei passiert, ist so stark". Mal tauche plötzlich ein Reh auf, ein andermal finde man sich inmitten eines Meisenschwarms wieder. "Die Natur hilft, in einen Hier-und-Jetzt-Zustand zu kommen."

Was passiert in der Rhöner Wildnis mit der Psyche?

Schnell war der Psychologin klar: Die Wildnispädagogik kann Menschen mit psychischen Erkrankungen helfen. Ermöglicht sie es ihnen doch, zumindest für einen Moment, sich ganz aufs Außen einzulassen und zeitgleich alle grübelnden Gedanken hinter sich zu lassen. 

Green Care-Projekt im Wald in Bad Bocklet: Die Gruppe übt das Schleichen im Wald.
Foto: Maik Prozeller | Green Care-Projekt im Wald in Bad Bocklet: Die Gruppe übt das Schleichen im Wald.

Ende 2018 war das, als Thümer erstmals der Wildnispädagogik begegnete. Sie hatte gerade am Biosphärenreservat Rhön die Stelle als Verantwortliche für das Green Care-Projekt angetreten. Dessen Ziel: ein naturbasiertes Angebot für Menschen mit psychischen Erkrankungen erarbeiten. "Das Angebot sollte entwickelt, pilotiert und mit einem regionalen Partner durchgeführt werden", erzählt Thümer. Wissenschaftlich begleitet werden sollte das Konzept von einer Evaluationsstudie, die erste Wirksamkeitsnachweise liefert.  

Wer hat das Forschungsprojekt Green Care initiiert und finanziert?

Initiiert wurde Green Care von den Biosphärenreservaten Rhön und Berchtesgarden: Ein gesunder Mensch und eine gesunde Natur gehören zusammen, sagt Doris Pokorny, Leiterin der Bayerischen Verwaltungsstelle des Biosphärenreservats. Insofern sei die Projektstudie ideal in der Rhön angesiedelt.

Projektträger sind die Regierungen von Ober- und Unterfranken. Finanziert wird es über den Projektzeitraum von fünf Jahren – die Studie läuft noch bis September – mit insgesamt 810.000 Euro von den Staatsministerien für Umwelt und Verbraucherschutz sowie Gesundheit und Pflege. 

Projekt Green Care: Wie wurde Menschen mit Depressionen in der Natur geholfen?

Dass Natur in Zeiten von Stress und psychischer Anspannung förderlich sein kann, hatte Thümer schon lange vor dem Projektstart am eigenen Leib erfahren. Bevor sie in die Rhön kam, lebte die heute 37-Jährige 16 Jahre in Frankfurt. Die intensive Arbeit an ihrer Masterarbeit und lange Phasen in der Bibliothek brachten sie zwischenzeitlich an ihre Grenzen: "Da waren Wochen dabei, in denen ich dachte: Ich pack' das nicht, ich kann das psychisch nicht bewältigen." Die Natur habe sie in solchen Momenten zuverlässig regeneriert. Als sie nach Abgabe der Arbeit mit der Green Care-Stellenausschreibung ein Forschungsprojekt rund um naturtherapeutische Angebote fand, wusste sie sofort: "Das ist meine Stelle."

Arbeiteten im Biosphärenreservat Rhön gemeinsam am Green Care-Projekt: (von links) der Chefarzt der Hescuro-Klinik in Bad Bocklet, Arpard Grec, Psychologin Katharina Thümer und Wildnispädagoge Maik Prozeller.
Foto: Kathrin Kupka-Hahn | Arbeiteten im Biosphärenreservat Rhön gemeinsam am Green Care-Projekt: (von links) der Chefarzt der Hescuro-Klinik in Bad Bocklet, Arpard Grec, Psychologin Katharina Thümer und Wildnispädagoge Maik Prozeller.

Als Projektpartner wurde die Hescuro-Kliniken Bad Bocklet (Lkr. Bad Kissingen) gewonnen. "Ein Glücksfall", sagt sie. Drei Jahre lang führten Thümer, Wildnispädagoge Maik Prozeller und eine Bezugstherapeutin der Klinik in einem Wald nahe Hescuro in Bad Bocklet ein naturbasiertes Angebot für Reha-Patienten mit Depressionen durch. Das wöchentlich vierstündige Angebot lief über einen Zeitraum von drei bis vier Wochen und umfasste Übungen aus der Wildnispädagogik modifiziert mit Elementen aus dem Achtsamkeits-, Entspannungs und Genusstraining.

Naturerfahrung und Depressionen: Was war die Annahme der Studie, was das Ergebnis?

Die These sei zu Beginn des Studienprojekts gewesen, dass sich naturbasierte Angebote auf Menschen mit Depressionen förderlich auswirken. Dabei ging es einerseits um eine Stärkung der psychischen Gesundheit der Patientinnen und Patienten, aber auch um eine Förderung von naturschützenden Haltungen und Werten. Eine Annahme, die sich in beiden Punkten durch die Evaluationsstudie bestätigt habe. 

Verringert also Naturerleben Depressionen? So weit will sich Katharina Thümer nicht aus dem Fenster lehnen. Nach ihrer persönlichen Meinung befragt, sagt sie: "Ich glaube, dass das so ist." Viele Entstehungsfaktoren von Depressionen stünden in Zusammenhang mit "einer künstlichen, sehr leistungsorientierten Welt und Gesellschaft". Das wiederum seien Dinge, die man in der Natur "selten" habe. Doch die Green Care-Studie arbeite nur mit einer begrenzten, kleinen Stichprobe. "Von dieser Stichprobe aus könnte man niemals einen so großen Schluss ziehen", muss Thümer enttäuschen.

Neu an Green Care: Was unterscheidet das Projekt von existierenden Studien etwa zum Waldbaden?

Empirische Belege habe das Projekt aber durchaus geliefert: Die emotionale Befindlichkeit genauso wie das Selbstmitgefühl - zwei Parameter, die laut Thümer maßgeblich in Zusammenhang mit der Entstehung und Aufrechterhaltung von Depressionen stünden - hätten bei den Teilnehmerinnen und Teilnehmern durch das Angebot signifikant gesteigert werden können.

Die Green Care-Studie ist auch deshalb von Belang, da sich wissenschaftliche Studien zu naturbasierten Angeboten - am bekanntesten ist wohl aktuell das Waldbaden - bislang fast ausschließlich auf den gesunden Menschen und Präventivangebote beziehen und häufig aus anderen Kulturkreisen stammen, in denen der Bezug der Menschen zum Wald ein anderer sei, so Thümer. Bei Green Care sei das mit dem Fokus auf den klinischen Bereich anders.

Was sagen ehemalige Teilnehmer des Projekts?

Ermittelt wurden die Ergebnisse mithilfe von Fragebögen. Über drei Jahre wurden 227 Fragebögen in den klinischen und 133 in den präventiven Experimental- und Kontrollgruppen in Rhön und Berchtesgarden erhoben. 

Die positive Wirkung der Natur nutzen, um psychischen Erkrankungen entgegenzuwirken. 
Foto: Katharina Thümer | Die positive Wirkung der Natur nutzen, um psychischen Erkrankungen entgegenzuwirken. 

Auch drei Monate nach den Gruppenangeboten sei eine positive Wirkung noch messbar gewesen. Im Rahmen eines Online-Vortrags zur Green Care-Studie berichtete eine ehemalige Teilnehmerin: "Ich bin so dankbar. Die Studie hat mich wirklich weitergebracht." Das konkrete Hineindenken in die Gruppensitzung im Wald in der Rhön sei für sie in Zeiten hoher Belastung der Schlüssel, zurück zur innerer Ruhe zu finden. "Ich hoffe, dass das Therapieangebot noch vielen weiteren Erkrankten helfen kann."

Was passiert mit den Projekt-Ergebnissen? Wird das Angebot fortgeführt?

Bis es ein derartiges Angebot auf Rezept geben könnte, sei es noch ein weiter Weg, erklärt Thümer und favorisiert eine andere Blickrichtung: "Der erste Schritt dafür ist getan." Weitere Studien mit größeren, randomisierten Stichproben wären in Folge nötig, der Fokus müsste fortan verstärkt auf die Wirkfaktoren gelegt werden: "Was ist das konkret, das da gewirkt hat?" Ob und welche Akteure sich dafür einsetzen könnten, sei zum jetzigen Zeitpunkt völlig offen.

In der Schublade sollen die Studie keinesfalls verschwinden: In der Bayerischen Verwaltungsstelle des Biosphärenreservats Rhön plant man aktuell ein auf den Ergebnissen von Green Care fußendes Folge-Projekt, wie die Leiterin der Bayerischen Verwaltungsstelle, Doris Pokorny, berichtet. Derzeit arbeite man an dem Antrag für Mulitplikatoren-Schulungen an Reha-Einrichtungen, um derartige Angebote in der Region zu verstetigen.

 
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