Es gibt diese nahezu perfekten Momente im Leben. Selten, aber es gibt sie. Wenn dein Gedankenkarussell plötzlich schweigt und dich dein eigenes Lächeln hinterrücks überwältigt, der Alltag zerbirst und du mit dem Leben pulsierst. An jenem Sonntag früh um sechs Uhr war es soweit. Es war der dritte Tag des Erlebniswochenendes „Entspannung finden in der Natur“ des Naturparks und Biosphärenreservats Bayerische Rhön.
Es geschah in der Dämmerung, auf einer Anhöhe unter einer Birke. Drei der sechs Seminar-Teilnehmer schlummerten noch friedlich in ihren Schlafsäcken auf der nahe gelegenen Waldlichtung beim Umweltbildungshaus Schwarzes Moor. Meine Schwester und ich waren mit Maik Prozeller, Umweltpädagoge beim Biosphärenreservat und Leiter des Wochenendes, bei Dunkelheit aufgebrochen, um den Sonnenaufgang zu sehen.
Da saßen wir nun vor den offenen Fernen der Rhön im taunassen Gras, den kühlen Wind im Haar, als sich der Himmel sekündlich neu färbte. Mit der blutroten Sonne stieg auch das Lächeln auf. Kurz darauf ein Sprung in den kalten See, ein Pläuschchen im Wasser sitzend, dabei den heißen, in der Thermoskanne mitgebrachten Kaffee schlürfend.
Überwältigende Augenblicke
Dass das Biosphärenreservats-Wochenende derart überwältigende Augenblicke bereithalten würde, war, zumindest für meine Schwester und mich, nicht abzusehen gewesen. Mit gemischten Gefühlen waren wir drei Tage zuvor angereist. Alles andere als entspannt, weil verspätet. Der Weg von der Haustür zur Wildnis war doch weiter gewesen als gedacht.
„Nicht, dass das so ein Guru anleitet“, witzelten wir ob der Hitze und Verspätung im Auto schwitzend, „oder ein verkappter Krieger.“ Was uns erwartet – wir konnten es uns beim besten Willen nicht vorstellen. „Ich erzähl‘ jedenfalls nix von mir“, sagte die eine, „ich ess' keine Maden“, die andere.
Am Umweltbildungshaus angekommen, wurden zunächst wir gefressen. Nicht von Maik Prozeller, sondern von einer Horde Schnaken. Mit ihnen zu leben sollte die beinahe größte Herausforderung der kommenden Tage sein.
Während die Teilnehmer – zwei Schüler, eine Studentin, eine Lehrerin und ich – im Sekundentakt schlugen, fluchten, kratzten, blieb der Wildnispädagoge vollkommen ruhig – und gemeinerweise augenscheinlich verschont von den lästigen Viechern. „Eine der Hauptregeln für das Leben in der Wildnis: Egal was passiert, nicht in Panik geraten, Ruhe bewahren.“
Prozeller lebte diesen Grundsatz. Ein gesamtes Wochenende lang hatte er die Ruhe weg. Übrigens: Trotz Bundeswehrvergangenheit entpuppte er sich nicht als verkappter Krieger und auch wenn er eine gewisse Sympathie für die Philosophie der Naturvölker erkennen ließ, trat er nicht annähernd guruhaft auf. Sein Wildnis-Wissen, ob Erklärungen zu den Baumarten, Sternenkonstellationen oder zu den Geheimnissen des Feuermachens, gab der Umweltpädagoge quasi nebenbei und völlig unaufdringlich weiter.
An jenem ersten Abend jedoch ging es zunächst um die Grundbedürfnisse: „Wer in und mit der Natur lebt, mag es trocken, warm und satt“, formulierte Prozeller. Die Gruppe widmete sich also dem Lager bauen, Feuer machen und Essen am selbst geschnitzten Stock brutzeln.
Schon beim Versuch des Feuermachens mit Feuerstein ohne Feuerzeug ging jegliches Zeitgefühl verloren. Am Ende trieb uns der Hunger aber doch zum Streichholz. Das anschließende Gitarrenspiel am Lagerfeuer, vielleicht auch der Apfelwein, lockerte selbst die verschlossenste Zunge. Übernachtet wurde mit Isomatte und Schlafsack unter einer Art Plane. Viel geschlafen hat wohl keiner in dieser ersten Nacht. Kaum ging das Feuer aus, schlug die Phantasie Purzelbäume. Zu ungewohnt war das Rascheln in der Dunkelheit, das Surren der Mücken, das Gefühl ausgesetzt zu sein. „In einer Viertelstunde geht die Sonne auf“ – ganz kurz davor muss ich weggedämmert sein. Dennoch, dieses Schauspiel wollte ich mir nicht entgehen lassen.
Es scheint, auch Sonnenaufgänge muss man üben. Was am Sonntag gelang, wollte sich am Samstag noch nicht recht einstellen: das Gefühl des Außergewöhnlichen. Lag es an der Müdigkeit oder an den Schnaken? Als der blutrote Sonnenball aufstieg, kam mir vor allem der Spruch auf meiner heimischen Kaffeetasse in Sinn: „Lächle, du kannst sie nicht alle töten!“ „Aber dich, dich und dich“, murmelte ich und schlug los.
Wenig Schlaf und viele Mückenstiche
„Wenig Schlaf und viele Mückenstiche – das soll entspannt gewesen sein?“, fragte skeptisch die Freundin, der ich nach meiner Rückkehr von dem Wochenende erzählte. Und ob! Dazu bei trugen Entspannungsübungen wie der indianische „Foxwalk“, man schleicht dabei barfuß durch den Wald, und Wahrnehmungs- und Beobachtungsübung im Wald. Auch beim Schnitzen von Anhängern und Modulieren von Tonperlen konnte man die Welt um sich vergessen.
„Manchmal muss man einfach die Komfortzone verlassen, die eigenen Grenzen erkunden, um das Leben zu spüren“, zog eine Teilnehmerin zum Abschluss des Wochenendes Bilanz. Wo die Grenzen jeweils liegen, entschied dabei jeder für sich selbst.
Mit Verzicht hatte das nicht zwangsläufig zu tun. Die befürchteten Maden hätte Prozeller auf Wunsch mit uns durchaus gesucht und gegessen. Ein paar Vogelbeeren, angeblich wegen des hohen Vitamin-C-Gehalts in Maßen durchaus gesund, waren für die Gruppe aber das Äußerste der Gefühle.
Ansonsten schlemmten wir am Lagerfeuer wie lange nicht. Unser kulinarisches Highlight: Frische Forelle auf Bretter genagelt am Feuer gebraten mit Kräuter-Knoblauch-Öl und gerösteten Broten und Fladen. Auch mit Toiletten und einer Dusche im Umweltbildungshaus war ein gewisser Grundkomfort durchaus gegeben. Wer nicht im Freien schlafen wollte, durfte den dortigen Gemeinschaftsraum zum Übernachten nutzen.
Neu sind derartige vom Biosphärenreservat initiierte Wochenenden nicht, erklärte Prozeller. Aber künftig sollen die Wildnis-Angebote weiter ausgebaut werden. „Wir wollen die Bevölkerung mitnehmen“, sagt er angesichts der Kernzonen-Erweiterung des Biosphärenreservats. „Da kann man Lehrpfade anlegen oder eben Wildnis erlebbar machen.“
Voraussichtlich im November findet das nächste Naturerlebniswochenende statt. Weitere Infos und Anmeldungen beim Infozentrum Haus der Langen Rhön Oberelsbach, Tel. (09774) 910260, oder per Mail info@nbr-rhoen.de.