Als Datensammler ist er ungeheuer akribisch, als Hobbyhistoriker unglaublich engagiert. Unermüdlich pflegt Klaus Weyer seit 2005 auf seiner Webseite Daten seines Heimatorts Neustadt ein und interpretiert dessen Geschichte teilweise neu. Seine Erkenntnisse veröffentlichte er 2019 in seinem Buch "Vom Keltenheiligtum zum karolingischen Missionskloster". Zwei seiner historischen Beiträge schafften es ins Jahrbuch seiner Wahlheimat Kreuzwertheim (2021) und ins Mainfränkische Jahrbuch für Geschichte und Kunst (2022).
Weyer, Jahrgang 1953, war als Diplom-Ingenieur für Informationstechnik in der Automatisierungsbranche tätig. Als Hobby-Historiker hat er sein Spektrum nach und nach erweitert. Sein jüngster Coup: ein neunseitiger Beitrag in der Zeitschrift "für internationale Märchenforschung und Märchenpflege", die seit 34 Jahren von der Märchenstiftung Walter Kahn in Volkach (Landkreis Kitzingen) herausgegeben wird.
Reichlich Ausrufezeichen
Der Titel reißerisch: "Es war einmal ... KEIN Schneewittchen aus Lohr am Main". Das "KEIN" in Großbuchstaben ist nicht außergewöhnlich für Weyers Stil. Er drückt sich gerne plakativ aus, hantiert mit reichlich Ausrufezeichen, arbeitet häufig mit Absätzen in knallroter Schrift. So müht er sich mit Leidenschaft zu widerlegen, warum jene Maria Sophia von Erthal, die 1726 im Lohrer Schloss geboren wurde, nicht das Vorbild oder gar die Personifikation von Schneewittchen sein kann.
Der Tod der Mutter, die zweite Heirat des Vaters, die Hochzeit mit einem Königssohn – nichts aus dem Märchen passt wirklich zusammen mit der historischen Maria Sophia, die infolge einer Pockenerkrankung seit ihrer Kindheit fast blind, körperlich behindert und nie verheiratet war. Jede Menge Details gleicht Weyer ab, um zu beweisen, dass Märchen und Historie nicht zusammenpassen. Alles vollkommen korrekt.
Nur stellt sich die Frage: Warum das Ganze? Wer hat jemals ernsthaft behauptet, dass diese Verbindung der Märchenfigur mit der historisch ziemlich unbedeutenden Erthal-Tochter den Tatsachen entspricht? Nun, Karlheinz Bartels und seine beiden Mitstreiter, Werner Loibl und Helmut Walch, jedenfalls nicht.
Bekanntlich hatte das Fabulologen-Trio im Raum Lohr reale Indizien zusammengetragen, die deckungsgleich sind mit Elementen des Märchens. Auch gab Apotheker Bartels seinem Werk einen (pseudo-)wissenschaftlichen Anstrich. Jedoch schon bei der Veröffentlichung seines Büchleins "Schneewittchen – Zur Fabulologie des Spessarts" 1986 machte der gewitzte Autor mit Fußnote 30 klar: "Und wenn wir wieder einmal Windeier aufschlagen, laden wir Sie wieder zum Essen ein". Noch deutlicher wird er bei der Neuauflage 2012, erweitert um das Kapitel "Schneewittchen in Lohr – oder die Eskalation eines Scherzes". Ein Scherz, der seit mehr als 30 Jahren das Stadtmarketing trägt.
Schneewittchen und Lohr waren Fakenews mit Ansage
Weyer jedoch ignoriert, dass sich Bartels mit der Wortschöpfung "Fabulologie" ein Denkmal mit Aussagekraft gesetzt hat. Es beschreibt jene Methode, mit Hilfe von Fakten etwas scheinbar Plausibles zu untermauern. Was für die konstruierte Geschichte taugt, verarbeitete der Fabulologe. Alles andere blendete er wohlwissend aus. Heute würde man sagen: Er schuf Fakenews mit Ansage und Augenzwinkern.
Weyer weiß das, bläst sogar ins gleiche Horn. So kommentiert er das Kapitel "Schneewittchen und die Fabulologen aus Lohr" auf seiner Homepage mit den Worten: "Erstellt am Flunkertag, nach einem sehr guten Helmuth Walch Windeier-Menü." Dennoch machte er sich ans Werk. "Märchen sind frei erfunden", schreibt er. Es gebe deshalb "keinerlei Bezug zu einer Zeit, zu Personen und zu Orten". Dies wolle er anhand des Lohrer Schneewittchens beweisen.
Wann ist Maria Sophia von Erthal geboren?
Zurecht kritisiert er ein Abbildung in Bartels Büchlein: Das Gemälde von Franz Anton Spahn zeigt tatsächlich nicht Maria Sophia mit Schwester, sondern zwei Cousinen. Wohl auch zurecht führt er an, dass Maria Sophia 1725 geboren wurde – Bartels hatte den handschriftlichen Eintrag im Taufregister vermutlich falsch als 1729 entziffert. In den Disput, wann des Lohrer Amtsmanns fünftes Kind geboren wurde – ob am 19. Juni (Taufbucheintrag) oder erst am 16. Juli (Rückschluss aus dem Totenzettel) – mischt er sich nicht ein.
Weyer befasst sich jedoch nicht nur mit dem Lohrer Schneewittchen. Auch ansonsten bürstet er gerne gegen den Strich und fordert andere Heimathistoriker mit eigenen Thesen heraus. Neustadt hätte das Jubiläum 1250 Jahre Kloster vor vier Jahren nicht feiern dürfen, kritisiert er. Es habe schon Vorgänger gehabt, ist er überzeugt, müsse also älter sein. Freilich gibt es dafür keine konkrete schriftliche Quelle.
Neustadt ein Weltkulturerbe?
Die Inschriften der drei Bronzereliefs im Umfeld der Neustadter Kirche: aus Weyers Sicht inakzeptabel, da fehlerhaft. Der Gaiberg zwischen Neustadt und Rothenfels: für Weyer ein keltischer Thingplatz. Der kleine Teich südlich des Klosters: der Rest eines heiligen keltischen Sees mit Furt – für Weyer gar jenes "Locoritum", das der römische Geschichtssschreiber Ptolemaios um 150 nach Christus erwähnte. Andere Heimatforscher sind sich da nicht so sicher. Weyer schon: "Locoritum befand sich nicht in Langenprozelten, sondern in Neustadt am Main! Das sollten die Tageszeitung-Leser in Main-Spessart nun endlich einmal wissen", poltert er auf seiner Homepage.
Ein mittelalterliches Kloster in Neustadt, nicht aber in Lohr? Weyer kennt den Grund. "Weil man im Tal von Rorinlacha eine vorgeschichtliche Kultstätte mit einer christlichen Stätte überbaute!" Reichlich Gründe für seine Forderung, Neustadt zum Weltkulturerbe zu erheben. Die Gemeinde möge dies beantragen.
Wann war Mozart wirklich da?
Wolfgang Amadeus Mozart in Neustadt? Sicher doch – auch für Weyer. 1763 oder 1790 schlug er dort die Orgel, ist überliefert. Weyer hält 1777 oder 1778 für richtig.
Weyer will "an der fränkischen Geschichtsschreibung" mitwirken, hat nicht nur Neustadt und Erlach, Locoritum und das Kloster im Blick. Sogar Jesus widmet er einen Eintrag. Nicht in Betlehem, sondern wahrscheinlich in Nazareth sei er geboren, gibt er den Stand der Forschung wieder. Joseph und Maria seien "bestimmt nicht arm" gewesen, bereits verheiratet und hätten Land in der Nähe von Bethlehem besessen.
Zurückhaltende Reaktionen
Zurück zum Kloster und Weyers 2019 erschienenem Buch. Kreisheimatpfleger Theodor Ruf erwähnt es nur in der Fußnote 51: Es sei "in gewisser Weise bewunderswert, jedoch leider völlig unwissenschaftlich und damit indiskutabel". Gleiches gelte für Weyers Webseite. Es sei sehr zu begrüßen, wenn sich jemand derartig intensiv mit der Geschichte Neustadts beschäftige, führt er weiter aus. Der Laie könne jedoch nicht beurteilen, was stimmt oder nicht. "Zudem landen diese ,Ergebnisse' auf diversen Internetseiten, und so werden falsche Aussagen schnell weiterverbreitet."
Auch Wolfgang Vorwerk tut sich schwer im Umgang mit Weyer. Der Vorsitzende des Geschichts- und Museumsvereins Lohr war befreundet mit den drei mittlerweile verstorbenen Fabulologen: Weyer habe nicht erkannt, dass sich Bartels mit der Wortschöpfung "Fabulologie" einen Freiraum geschaffen habe, um das Märchen auf scheinbar wissenschaftlicher Basis augenzwinkernd zu verorten, bedauert er.
Weyer hingegen hält Aufklärung für zwingend nötig. "Viele Leute glauben felsenfest, dass Schneewittchen eine Lohrerin war und können zwischen Wahrheit und Fabulieren nicht unterscheiden. Sie haben das Fabulieren nicht kapiert." Dabei beruft er sich nicht nur auf eine ähnliche Äußerung Rufs. Auch die Infotafel an der Marienapotheke, die inzwischen Bartels Tochter betreibt, stelle die Verbindung Schneewittchens mit Lohr als Fakt dar.
Diese journalistischen Leitlinien hat sich die Redaktion der Mediengruppe Main-Post gesetzt.
https://www.mainpost.de/service/intern/journalistische-leitlinien-der-main-post-art-10118443
Kurzfassungen gibt es als PDF auf meiner Seite.
Schneewittchen:
http://www.weyer-neustadt.de/CONTENT/Portals/57ad7180-c5e7-49f5-b282-c6475cdb7ee7/Kein%20Lohrer%20Schneewittchen_170b.jpg
Locoritum:
http://www.weyer-neustadt.de/CONTENT/Portals/57ad7180-c5e7-49f5-b282-c6475cdb7ee7/Mainfraenkisches-JB-2022_170b.jpg
Redakteur Heinz Scheid zu dem Vortrag von Theodor Ruf am 26. März 2019:
Eine steile These ist Rufs Auffassung, dass Lohr und Neustadt von Anfang an zusammengehörten. Der Baugrund für das Kloster samt der Klostermark sei von einem Grafen Hatto geschenkt worden, "der möglicherweise in Lohr residierte". Neustadt sei das Bildungszentrum für Lohr gewesen.
https://www.mainpost.de/regional/main-spessart/gruendung-von-neustadt-ist-nebuloes-art-10207518
http://www.weyer-neustadt.de/content/Portals/57ad7180-c5e7-49f5-b282-c6475cdb7ee7/Es war einmal KEIN Lohrer Schneewittchen.pdf
https://www.alt-alfeld.de/dies-das/die-sieben-berge/
https://www.lohr.de/tourismus-und-kultur/entdecken-erleben/schneewittchen/eine-lohrerin
und
https://www.lohr.de/tourismus-und-kultur/entdecken-erleben/schneewittchen/eine-lohrerin/maerchen-und-realitaet
http://www.weyer-neustadt.de/content/Portals/57ad7180-c5e7-49f5-b282-c6475cdb7ee7/Schneewittchen%20Weg%20K%20H%20Bartels.pdf