Wenn auf Feldern Wasser in hohen Fontänen auf Obst und Gemüse herabregnet, ist der Verbrauch offensichtlich. Wenn die Industrie aus der Natur Wasser entnimmt, ist das oft kaum zu sehen, in der Größenordnung aber um ein Vielfaches höher. Häufig zeugen nur lange Rohrleitungen davon.
Wer darf in Unterfranken das meiste Wasser entnehmen? Eine Recherche der Main-Post mit dem Bayerischen Rundfunk zu allen Wasserentnahmen in Unterfranken hat gezeigt: Mengenmäßig haben Industrie- und Gewerbebetriebe die größten Entnahmerechte.
Der "Wasserversorgungsbilanz Unterfranken" zufolge, einer Studie der Regierung von Unterfranken, liegen dabei zwei Betriebe an der Spitze: aus der Chemie- und der Papierindustrie. Sie dürfen so viel Grundwasser entnehmen wie alle anderen industriellen Entnehmer in Unterfranken zusammen.
Die Papierfabrik im Landkreis Haßberge will sich "aus Wettbewerbsgründen" nicht öffentlich zum Thema Wasser äußern. Der Chemiestandort im Landkreis Miltenberg öffnet dagegen auf Anfrage der Redaktion bereitwillig seine Pforten: das Industrie Center Obernburg, kurz ICO.
Industrie Center Obernburg am Main: Keine Geheimniskrämerei beim Thema Wasser
Das ICO ist einer der größten und ältesten Standorte für technische Garne in Europa. 2024 werden die ehemaligen Glanzstoffwerke 100 Jahre alt. Mehr als 30 Firmen sind auf den 176 Hektar zwischen den Gemeinden Elsenfeld und Erlenbach am Main heute ansässig. Sie beschäftigen 3000 Mitarbeitende und produzieren 120.000 Tonnen Garne jedes Jahr.
Die Chemiefasern aus Unterfranken stecken in italienischen Anzügen, in Medizintechnik und in Geländebefestigungsmatten am Hongkonger Flughafen. Größter Abnehmer ist die Autoindustrie, die die Fäden aus Obernburg in Airbags, Autoreifen und Sicherheitsgurten verwebt.
Die Wassermengen, die hier im Industriecenter gebraucht werden, sind enorm. Aber, sagt Johannes Huber, Geschäftsführer der Mainsite GmbH & Co. KG und Standortbetreiber des ICO: "Wir haben in unserer 100-jährigen Geschichte viel getan, um mit der Region in Einklang zu leben: Müll trennen und Wasser sparen gehören dazu."
Warum der Industriepark so viel Wasser braucht
Mainsite kümmere sich um alles, was die anderen Unternehmen am Standort nicht selbst machen wollten, sagt Huber: Logistik, Werkschutz, Feuerwehr, Kantine, Energie - und Wasser.
Es ist kein Zufall, dass das ICO am Main liegt und einen eigenen Hafen besitzt. Immense Mengen Flusswasser werden zur Kühlung des Gaskraftwerks Obernburg gebraucht, das bei Bedarf den ganzen Landkreis Miltenberg mit Strom versorgen kann. Darüber hinaus werden große Wassermengen aus dem Main-Zufluss Elsava – vermischt mit Grundwasser – bei der Produktion der Garne verwendet.
Das ICO teilt sich mit 18 umliegenden Kommunen eine Kläranlage, die das Wasser aus Produktion und Kühlung - gereinigt - wieder in den Main abgibt. Außerdem pumpt das Industriecenter Grundwasser für die eigene Trinkwasserversorgung an die Erdoberfläche. Allein der Trinkwasserverbrauch liegt bei etwa 140.000 Kubikmeter pro Jahr.
Ohne Wasser geht im Industriecenter Obernburg also nichts. Doch mit dem Wort "Verbrauch" hat der Mainsite-Geschäftsführer ein Problem. "Wir verbrauchen kein Wasser. Wir brauchen Wasser", sagt Huber. Mit geringen Verlusten würde es wieder in die Natur zurückgegeben.
Doch wie lautet die Rechnung? Wie viel wird entnommen und wie gespart? Ein Blick auf die drei größten Wasserrechte des Chemiestandorts - und den Regen:
1. Grundwasser: Wieviel entnommen und wie gespart wird
14 Millionen Kubikmeter Grundwasser, also 14 Milliarden Liter, darf das ICO pro Jahr für Produktionszwecke entnehmen. Diese Menge, die das Landratsamt Miltenberg erlaubt, schöpft der Industriestandort nicht aus. Tatsächlich habe sich die Grundwasserentnahme in den vergangenen 20 Jahren fast halbiert: auf 9,2 Millionen Kubikmeter im Jahr 2021 laut den Daten des Landratsamtes Miltenberg und auf 8,4 Millionen Kubikmeter im Jahr 2022 nach Angaben von Mainsite.
Wie das geklappt hat? "Über den Preis", sagt Johannes Huber. Die 30 Firmen des ICO würden für das Wasser eine Gebühr zahlen. "Wir machen das Wasser teurer, so dass es für unsere Kunden kostbarer wird, damit sich Investitionen in Wassereinsparungen besser rechnen." Das Konzept gehe auf, das entnommene Wasser werde über Kreislaufsysteme mehrfach genutzt.
Dazu kommt: Die Netto-Entnahme, also der Teil, der dem Grundwasser tatsächlich entzogen und anschließend in den Main geleitet wird, ist deutlich geringer. Den Daten des Landratsamtes Miltenberg zufolge waren es im Jahr 2021 noch 2,7 Millionen Kubikmeter Wasser.
2. Bachwasser: Warum ein Zufluss des Mains angezapft wird
Grund für die geringere Netto-Entnahme von Grundwasser ist das zweite große Wasserrecht des Chemiestandorts: 10 Millionen Kubikmeter Wasser darf das ICO pro Jahr aus der Elsava in Elsenfeld entnehmen. Tatsächlich waren es 2021 laut Landratsamt Miltenberg etwa 6,5 Millionen Kubikmeter.
Über ein Pumpwerk wird dieses Bachwasser auf einer riesigen Wiese verteilt, wo es ins Grundwasser versickert, bevor es über rund 30 Brunnen wieder an die Oberfläche gepumpt wird. Der Vorteil dieses "Umwegs": Die Bodenschichten reinigen das Wasser und sorgen für eine Temperatur von zehn bis 14 Grad.
Nach der Produktion der Chemiegarne wird das Gemisch aus Grund- und Bachwasser in der Kläranlage gereinigt und abzüglich "geringer Verluste" von "etwa 200.000 Kubikmeter pro Jahr" in den Main geleitet, sagt Werner Hansmann, der Leiter Technik und Energieverteilung der Mainsite.
Das Wasser aus der Elsava werde also "lediglich umgeleitet", bevor es nach Gebrauch wieder im Main lande, sagt Hansmann. Und dem Grundwasser werde dadurch netto deutlich weniger entzogen. Im Jahr 2022 waren es dem Ingenieur zufolge noch 1,4 Millionen Kubikmeter Grundwasser, das die 30 Firmen für Industrieprozesse netto entnommen und anschließend in den Main geleitet hätten.
3. Mainwasser: Warum das Industriecenter in zwei Hitzesommern die Einleitung gestoppt hat
Das dritte große Wasserrecht des ICO: 44 Millionen Kubikmeter Wasser dürfen pro Jahr aus dem Main entnommen werden. Tatsächlich gebraucht wurden laut Landratsamt 2021 etwa 25 Millionen Kubikmeter, um das Kraftwerk Obernburg zu kühlen und das erwärmte Wasser anschließend in den Fluss zurückzuleiten. Durch die geschlossenen Rohrsysteme verdunste praktisch nichts, sagt Technik-Leiter Hansmann.
Bleibt das Problem der Temperatur: Um bis zu 15 Grad darf das Wasser aufgewärmt und mit maximal 32 Grad wieder in den Main zurückgeleitet werden. Von diesen Grenzwerten sei man aber weit entfernt, sagt Hansmann.
Biologen der Regierung von Unterfranken zufolge heizt sich der Main jedoch im Sommer durch die vielen Staustufen immer öfter auf bis zu 27 Grad auf. Gleichzeitig sinkt der Sauerstoffgehalt im Wasser. Akut bedroht war die Gewässerökologie im Hitzesommer 2018: Zehn Tage lang galt "Alarm" am Main, die höchste der drei Warnstufen eines Frühwarnsystems der Regierung.
Das ICO und andere Industrieunternehmen in Unterfranken reduzierten daraufhin ihre Einleitungsmengen in den Main: "Wir haben freiwillig die Leistung unseres Kraftwerks zurückgefahren, indem wir den Strom nicht mehr selbst produziert, sondern von außen bezogen haben", sagt Hansmann. Es sei das zweite Mal innerhalb weniger Jahre gewesen, dass das ICO reagiert habe, um eine ökologische Katastrophe abzuwenden.
Die Krux: Gerade im Sommer werden größere Mengen Mainwasser zur Kühlung benötigt als im Winter. "Mit fünf Grad kaltem Wasser können Sie besser kühlen als mit 26 Grad warmem Wasser", sagt Hansmann. Was also tun, wenn sich im Klimawandel die Hitzesommer häufen und die Temperaturen in den Flüssen steigen? Dieses Problem hätten alle Kraftwerke in Europa, sagen die Mainsite-Verantwortlichen. Im ICO sei man für diese Notfälle gerüstet.
4. Regenwasser: Warum der Chemiestandort auf ein riesiges Gründach setzt
Etwa 1,4 Millionen Euro hat es mehr gekostet als ein normales Dach: das laut Mainsite "größte "Biodiversitäts-Gründach in ganz Bayern". Auf einem Logistikgebäude des ICO blühen in zwölf Metern Höhe auf einer sieben Hektar großen Dachfläche Bodendecker, auf Totholzarealen tummeln sich Insekten.
Der Vorteil: Das Gründach isoliere um etwa zwei Grad, sagt Sebastian Krug, Projektmanager Standortentwicklung. Im Winter sei im Gebäude weniger Heizung, im Sommer keine Klimaanlage nötig. Ziel sei, das Regenwasser zu halten. Die Substratschicht des Dachs speichere 60 Prozent des Niederschlags. Der Rest werde, etwa bei Starkregen, nach unten in Versickerungsbecken geleitet und komme dem Grundwasser zugute.
Fazit: Ohne Wasser kein Chemiestandort im Landkreis Miltenberg
Würde es das Industriecenter Obernburg mit 3000 Beschäftigen ohne Wasserentnahmen geben? Wohl kaum. Werner Hansmann sagt: "Die Produktionsprozesse im Industriecenter sind sehr stark abhängig vom Wasser." Doch die Mainsite forciere seit mehr als 20 Jahren Wassersparmaßnahmen: etwa Kreisläufe, Zweitnutzung und Versickerung. "Allein in den letzten fünf Jahren haben wir mehr als zwei Millionen Kubikmeter Wasser eingespart."