Im Gasthaus Adler in Eußenheim gingen vor einem Jahr noch typisch fränkische Gerichte über den Tresen, Vereine aus dem Ort haben dort ihre Versammlungen abgehalten, Einheimische im großen Saal gefeiert. Heute ist die ehemalige Gaststätte das Klassenzimmer von zwölf ukrainischen Schülerinnen und Schülern der Eußenheimer Mittelschule, die angestrengt über ihren Schulbüchern sitzen und sich mit dem Oberthema "Transport" auseinandersetzen. Was erstmal lustig klinge, gehe jedoch laut Schulleiterin Sabine Baer mit Kompromissen einher, vor allem das "Wirtshaus-Ambiente" sei weiterhin sichtbar.
Denn wer den großen Saal im ersten Stock des Gebäudes direkt an der Hauptstraße betritt, der wird von einem rustikalen Ambiente empfangen. Die Wand ist mit Holz verkleidet, die Vorhänge geblümt, die Überbleibsel der Gaststätte – Stühle, Krüge und Zapfanlage – wurden zur Seite geschoben, um Platz für eine Pinnwand, die Tafel, das Whiteboard mit Beamer, eine Reihe von Computern sowie Schultische zu machen. Die Wände verzieren Plakate, die über das deutsche Versicherungssystem aufklären oder Deutschland mit der Ukraine vergleichen.
Unterricht im Gasthaus Adler laut Schulleiterin eine Notlösung
Ideal wäre laut Baer "natürlich ein voll ausgestattetes, modernes Klassenzimmer, aber es ist auch nur ein Jahr und zweifelsohne eine Kostenfrage". Dass der Unterricht im Gasthaus Adler stattfindet, sei eine Notlösung, denn die Schule "platzt aus allen Nähten", betont sie. Derzeit befinden sich auch die Klassen der Eußenheimer Grundschule, die bisher in Aschfeld unterrichtet wurden, in den Räumlichkeiten der Mittelschule. In Aschfeld entsteht derweil ein 7,5 Millionen teurer Neubau, der voraussichtlich Ende 2023 fertiggestellt sein soll. Die Mittelschule Eußenheim habe deshalb "eine große Raumnot", denn auch die Gruppengröße der offenen Ganztagsbetreuung habe zugenommen.
Zwei Klassen der Mittelschule werden in Containern unterrichtet, die Ganztagsbetreuung findet im Pfarrheim statt und "da die Brückenklasse mit zwölf Jugendlichen die geringste Klassenstärke aufweist, sind wir mit dieser Gruppe in das stillgelegte, ehemalige Wirtshaus ausgewichen", so Baer. Sie macht deutlich, dass dieser Schritt keine "Notlösung aufgrund der ukrainischen Jugendlichen ist", sondern dem Platzmangel – welcher bereits vor der Ankunft der ukrainischen Familien ein Problem darstellte – geschuldet sei.
Alle Voraussetzungen für den Unterricht sind gegeben
Die Wahl fiel aber auch deshalb auf das Gasthaus Adler, weil der dortige Raum "trocken, sauber, beheizbar, in unmittelbarer Schulnähe ist und die Voraussetzungen hat, damit für ein Jahr ein ordentlicher Unterricht stattfinden kann". Lehrerin Maria Kronenbürger, die Gymnasiallehramt studiert und deren Mutter aus der Ukraine kommt, sieht den Vorteil des Raumes auch darin, dass genügend Platz für Gruppenarbeiten vorhanden ist und sie die Inhalte mit Bewegung vermitteln könne.
Früh habe sie bemerkt, dass die ukrainischen Schülerinnen und Schüler "wettbewerbsorientiert" seien, bei Lernspielen sehe sie deshalb den größten Erfolg. Erst kürzlich habe sie mit den Jugendlichen verschiedene Wahldurchgänge durchgespielt, um ihnen das Wahlsystem näher zu bringen, die Aufgabe der Klasse war es, Wahlfehler zu erkennen und aufzudecken. "Ich mag es, wenn wir ein Spiel spielen, denn dann ist es nicht langweilig, weil man mitdenken muss", sagt die 14-jährige Anja Polovenko, die am Experiment besonders viel Freude hatte. Sie findet es nicht schlimm, dass die Brückenklasse in einem Gasthaus unterrichtet wird, der Raum sei "angenehm zum Lernen", auch weil sie den Krieg während des Unterrichts vergessen könne.
"In der Schule habe ich keine Zeit, über Trauriges nachzudenken, und ich denke, das ist gut", erklärt die Schülerin, die gemeinsam mit Mutter, Stiefvater und Bruder nach Deutschland geflohen ist. In der Ukraine hat sie eine Schule mit 800 Schülerinnen und Schülern besucht, die Eußenheimer Mittelschule mit ihren rund 180 Jugendlichen empfindet die 14-Jährige hingegen als "familiär", und die Lehrerinnen und Lehrer würden sich auch für ihre mentale Gesundheit interessieren.
Wie es im Gasthaus Adler nach diesem Schuljahr weitergeht ist unklar
Dass sein Gasthof nun als Klassenzimmer dient, bringt Inhaber Ludwig Keller vom gleichnamigen Weingut zum Schmunzeln. Das sei schon ungewöhnlich, hält er fest. Seit über 100 Jahren befände sich das Gasthaus Adler bereits in Familienbesitz und jede Generation habe es weitergeführt. Doch vergangenen Winter musste die Familie das Lokal aus persönlichen Gründen schließen. "Letztes Jahr sind mein Vater und meine Schwester, die den Gasthof geführt haben, verstorben", berichtet Keller, "da hat jeder gewusst, dass es so nicht weitergeht." Er selbst hätte den Gasthof zwar gerne übernommen, aber ihm fehle die Zeit, und auch seine Kinder hätten sich beruflich anders orientiert.
Die leerstehenden Räumlichkeiten der Schule zur Verfügung zu stellen, ergebe für das Gemeinderatsmitglied Sinn, denn "es sind Toiletten da, es ist alles in einem guten Zustand und bis vor kurzem war das ganze noch belebt". Darüber hinaus müsse der Gasthof sowieso beheizt und intakt gehalten werden, auch die Kühlung laufe noch, weil die Familie ihren Wein im Kühlraum lagere. Wie es im Gasthof Adler nach diesem Schuljahr weitergeht, ist offen.
"Mein Neffe ist Koch und hat lange damit geliebäugelt, aus dem Gasthof was zu machen", informiert er, "aber wenn mein Neffe sagt, für ihn ist es auch uninteressant, dann wird der Gasthof veräußert. Es bringt uns ja nichts, wenn das Gebäude leer steht." Sollte es zum Verkauf kommen, dann würde er sich über eine neue Gaststätte freuen, denn davon gebe es in Eußenheim derzeit zu wenig.