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Marktheidenfeld
Schulstart in der Fremde: Wie kommen ukrainische Schüler in Main-Spessart klar?
Seit September werden ukrainische Kinder und Jugendliche in Main-Spessart an den weiterführenden Schulen in Brückenklassen unterrichtet. Ein Besuch im Marktheidenfelder Unterricht.
Brückenklasse am Balthasar-Neumann-Gymnasium: Lehrerin Tanja Leuchtweis unterrichtet rund zehn ukrainische Schülerinnen und Schüler in Deutsch.
Foto: Lucia Lenzen | Brückenklasse am Balthasar-Neumann-Gymnasium: Lehrerin Tanja Leuchtweis unterrichtet rund zehn ukrainische Schülerinnen und Schüler in Deutsch.
Lucia Lenzen
 |  aktualisiert: 01.03.2023 07:55 Uhr

Der dunkelhaarige Junge mit dem schwarzen Kapuzenpulli wirkt kurz nervös, als er vor die Klasse tritt. Dann holt er tief Luft, legt sein Tablet unter die Dokumentenkamera und legt los: " Ich heiße Artem (Name von der Redaktion geändert), bin 14 Jahre alt, wohne in Urspringen. Ich fahre mit dem Bus in die Schule. Es gibt sechs Haltestellen. Es geht durch Roden, einen Kreisverkehr, hier steige ich aus." Bei den letzten Worten zeigt er auf die Stelle im Standplan von Marktheidenfeld, in der das Balthasar-Neumann-Gymnasium (BNG) liegt. Seine Mitschüler applaudieren. Artem setzt sich wieder hin. 

Fünf Mädchen und vier Jungen sitzen an diesem Dienstag in Raum 103 des Gymnasiums. Bis auf ein moldawisches Mädchen kommen alle aus der Ukraine. Seit Schulbeginn im September besuchen sie ein Jahr lang die sogenannte Brückenklasse des Marktheidenfelder Gymnasiums.

Grundgerüst an Deutschkenntnissen an weiterführenden Schulen

Sie wurden eingerichtet, um den Kindern und Jugendlichen an weiterführenden Schulen erst einmal ein Grundgerüst an Deutschkenntnissen mit auf den Weg zu geben. Neben Deutsch stehen Mathe und Englisch verpflichtend auf dem Stundenplan. Ist das Jahr vorbei, wird geschaut, an welcher Schulart es weitergehen könnte.

In ganz Main-Spessart werden derzeit 267 ukrainische Schülerinnen und Schüler verteilt auf alle Schularten unterrichtet. Konkret besuchen dabei 26 ein Gymnasium, 26 eine Realschule, 22 die  Berufsschule, 95 eine Grundschule und 98 eine Mittelschule.

Kinder im Grundschulalter nehmen am regulären Unterricht teil, an den weiterführenden Schulen starten sie seit diesem Schuljahr in der Brückenklasse. An den Grund- und Mittelschulen wurden dafür laut Schulamt zusätzliche Lehrkräfte eingestellt.

Zusammen mit einer Kollegin und einem Kollegen unterrichtet Tanja Leuchtweis am BNG die ukrainischen Schüler. An diesem Tag sollen Artem und seine Mitschüler ihren Schulweg auf Scribblemaps einzeichnen und danach der Klasse vorstellen.

Unterricht mit Kindern und Jugendlichen in unterschiedlichem Alter

Nicht bei allen klappt das schon so flüssig, wie bei Artem. Applaus bekommen sie aber alle. "Das ist schon auch ganz schön schwierig, schließlich muss ich mich erst mal in einem fremden Raum orientieren: Wo wohne ich da eigentlich? Was ist um mich herum?", beschreibt Leuchtweis. Dazu kommt, dass die Kinder und Jugendlichen alle unterschiedlich alt sind, also auch unterschiedlich weit, denn die Brückenklasse umfasst die Jahrgangsstufe fünf bis neun. 

Leuchtweis unterrichtet am BNG eigentlich Deutsch, Geschichte und Sozialkunde. Den Zusatz "Deutsch als Fremdsprache" hat sie sich im Crash-Kurs angeeignet. Seit März hat sie darin die ukrainischen Schüler, die ans BNG kamen, unterrichtet. Abgesehen vom Deutsch-Unterricht waren sie aber in den Regelklassen aufgeteilt.  

Deutsch als Fremdsprache: In den Brückenklassen sollen die ukrainischen Schülerinnen und Schüler die deutsche Sprache so gut erlernen, dass sie sich im bayerischen Schulsystem orientieren können.
Foto: Lucia Lenzen | Deutsch als Fremdsprache: In den Brückenklassen sollen die ukrainischen Schülerinnen und Schüler die deutsche Sprache so gut erlernen, dass sie sich im bayerischen Schulsystem orientieren können.

"Die Schülerinnen und Schüler freuen sich schon sehr, jetzt zusammen in einer Klasse zu sein", so Leuchtweis. Auch wenn sie alle unterschiedlich alt sind, aus unterschiedlichen Regionen in der Ukraine kommen und jetzt auch verstreut im Landkreis wohnen, sind sie froh, sich jeden Morgen zu treffen, sich auszutauschen, aber auch mal herum zu witzeln oder sich etwas anzuvertrauen.

Individuelle Stundenpläne für ukrainische Schülerinnen und Schüler

Um alle Bedürfnisse abzudecken, erhält jeder seinen individuellen Stundenplan. Sechs von ihnen streamen zusätzlich auch noch Unterricht aus der Ukraine und ziehen sich dazu in einigen Stunden in die Bibliothek zurück.

"Die größte Hürde ist einfach die Sprachbarriere", so Leuchtweis. Wobei die Motivation, deutsch zu lernen auch schwankt, je nachdem mit welcher Perspektive die Jugendlichen gekommen sind. Manche wissen, dass sie in Deutschland bleiben wollen. Andere hingegen sind nur auf einige Monate eingestellt, manche auf noch weniger. 

"Die größte Hürde ist einfach die Sprachbarriere."
Tanja Leuchtweis, Lehrerin am Balthasar-Neumann-Gymnasium

Worin sich der Unterricht in Deutschland von dem in der Ukraine unterscheide? "In Mathe gehen wir in der Ukraine schneller voran, dafür nicht so in die Tiefe wie hier", erklärt Artem ein Beispiel. Sonst sei vieles ähnlich. Wie es den Freunden daheim in den Schulen ergeht, erfahren sie über Messenger-Dienste. So können die Jugendlichen trotzdem nah dran bleiben an den Menschen in der Heimat. Artem telefoniert auch oft mit seinem Vater, der nicht mitkommen konnte. Er erzählt ihm viel von seinem Alltag hier. 

Wie sehr der Konflikt im Unterricht mitschwingt? "Unterschwellig eigentlich immer", sagt Tanja Leuchtweis. Je nachdem welche Nachrichten gerade über das Handy kommen, sind die Schüler an manchen Tagen stiller oder bedrückter. Manche Kinder und Jugendliche seien auch traumatisiert. Das merke man deutlich. Hier werde versucht zu helfen, über die Schulpsychologin, über den Kontakt zu den Eltern.

Im Unterricht geht sie nicht auf den Konflikt ein. "Die ukrainischen Schüler sollen hier einen Schulalltag bekommen, wie andere Jugendliche auch", so Leuchtweis. Dass der ihnen gut tut, merkt man. An diesem Vormittag ist die Stimmung gelöst, es wird viel gelacht.  Mit Blick auf die gesamte Schule glaubt die Lehrerin, seien die neuen Mitschüler eine Bereicherung. Denn "unsere Schüler merken, dass das Leben, das wir hier führen, keine Selbstverständlichkeit ist". 

Wege in das bayerische Schulsystem für aus der Ukraine geflohene Kinder und Jugendliche

Jahrgangsstufen 1 bis 4
Die Kinder nehmen am regulären Unterricht der bayerischen Grundschulen teil. Durch vielfältige Begegnungen mit Gleichaltrigen sollen die Schülerinnen und Schüler in dieser Altersgruppe die deutsche Sprache besonders schnell lernen. Bayern folgt damit der Empfehlung der Ständigen Wissenschaftlichen Kommission der Kultusministerkonferenz. 
Jahrgangsstufen 5 bis 9
Für Schülerinnen und Schüler, die die deutsche Sprache gerade erst erlernen oder bisher lediglich über geringe Kenntnisse des Deutschen verfügen, wurden im Schuljahr 2022/2023 die sogenannten "Brückenklassen" eingerichtet. Ziel ist es, dass die Kinder und Jugendlichen die deutsche Sprache schnell so gut erlernen und sich im bayerischen Schulsystem orientieren können, dass sie künftig dem Regelunterricht folgen und begabungsgerecht gefördert werden können.
Schülerinnen und Schüler, die über so gute deutsche Sprachkenntnisse verfügen, dass sie dem Regelunterricht an den bayerischen Schulen bereits jetzt folgen und aktiv daran teilnehmen können, können als Regelschülerin bzw. Regelschüler aufgenommen werden.
Quelle: Bayerisches Staatsministerium für Unterricht und Kultus
 
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