Freitag, 9 Uhr morgens am Karlstadter Marktplatz: Die Sonne scheint, ein Mann überquert hustend den Platz, auf der Bank vor dem Landratsamt unterbindet eine Mutter das Nörgeln ihrer kleinen Tochter mit einem Schokohörnchen. So weit, so normal. Doch etwas fehlt in der Szene: die Stadttauben. Von den graumelierten Königinnen der Innenstadt ist weit und breit nichts zu sehen, die Brösel des Schokohörnchens fallen unter die Bank und bleiben traurig und verlassen liegen.
Aber wo hat es sie hin verschlagen, die grün-violett-benackten Hygienepolizistinnen? Ein paar Schritte die Alte Bahnhofstraße hinunter buhlen endlich drei von ihnen vor einer Bäckereifiliale um die Frühstücksreste eines älteren Herren. Ein Anfang. Aber von der "Plage", von der im Stadtrat unlängst liebevoll gesprochen worden war, kann leider nicht die Rede sein.
Verschwindet die Stadttaube aus Main-Spessart und wiederholt sich hier Geschichte?
Ein trauriges Bild, das sich auch auf den Marktplätzen des übrigen Landkreises bietet: In Marktheidenfeld finden sich ein paar wenige, in Lohr nur wenige mehr und in Gemünden überhaupt keine der gefiederten Altstadtaushängeschilder. Geschweige denn in Retzbach, wo erst diese Woche der Vorstoß eines Tierliebhabers im Gemeinderat abgeschmettert worden war, das taubenunfreundliche Stundengeläute der Pfarrkirche zu unterbinden.
Wiederholt sich hier Geschichte, fragt man sich da, mit bangem Blick auf ein schwarzes Kapitel nordamerikanischer Historie: Die Wandertaube, eine nahe Verwandte unserer beliebten Stadttaube, zählte dort Anfang des 19. Jahrhunderts mit einer geschätzten Gesamtpopulation von drei bis fünf Milliarden Exemplaren noch zu den häufigsten Vogelarten der Welt. Sie lebten in Kolonien, die teils mehrere hundert Quadratkilometer umfassten. Zeitzeugen berichten gar von "Schwärmen, die den Himmel verdunkelten".
Keine hundert Jahre später, am 24. März 1900, wurde das letzte wildlebende Exemplar erschossen. Martha, die letzte in Gefangenschaft lebende Wandertaube, starb am 1. September 1914. Bitte was? Das ist nicht die leichte Unterhaltung, die Sie sich zu Ihrem Samstagmorgenkaffee gewünscht haben? Dies, liebe Leserin, lieber Leser, bitte ich zu entschuldigen. Doch bei einem existenziellen Thema wie dem Artensterben gilt es derart fatale Symbole des menschlichen Raubbaus an der Natur im Blick zu behalten – auch in einer Glosse.
Karlstadter Stadtrat hat den Ernst der Lage erkannt und möchte aktiv werden
Aber Kopf hoch, der Karlstadter Stadtrat hat den Niedergang der Stadttaube bereits erkannt und sich für dieses Haushaltsjahr verpflichtet, für den Erhalt des Vogels aktiv zu werden. Die Idee: ein städtisches Taubenhaus soll her, wo die Vögel ungestört brüten können. Die Kosten: stattliche 50.000 Euro, zu denen laut der beauftragten Fachfirma jährlich weitere 10.000 Euro Unterhalt hinzukommen werden. Wo das Haus stehen soll, das ist noch nicht abschließend geklärt – aufdrängen würde sich jedoch zweifelsohne das Zentrum des Marktplatzes. Dort könnten sich dann möglichst viele Touristinnen, Touristen und Einheimische hoffentlich noch sehr, sehr lange am Gedeih von Marthas zutraulichen Cousins und Cousinen erfreuen.