
Eigentlich hätte sie Echterstraße heißen sollen, doch die Evangelischen in Karlstadt mahnten an, eine wichtige Straße auch mal nach einem Protestanten zu benennen – und nicht nach dem katholischen Gegenreformator Julius Echter. Daher hört die Hauptverkehrsachse in der Karlstadter Siedlung seither auf den Namen Bodelschwinghstraße. So berichtet es Stadtarchivar Manfred Schneider im Gespräch mit dieser Redaktion.
Friedrich Christian Carl von Bodelschwingh – glücklicherweise muss nicht der komplette Name bei der Adressangabe verwendet werden – lebte von 1831 bis 1920. Geboren wurde er in Tecklenburg bei Osnabrück. Er war evangelischer Pfarrer, arbeitete in der Inneren Mission, war geprägt von einem Drang, Menschen zu helfen. So gründete er Arbeiterkolonien für Obdachlose, ebenso die erste deutsche Bausparkasse und sammelte Geld über die "Brockensammlung", bei der nicht mehr benötigte Dinge verkauft wurden. Noch heute ist in der Schweiz der Begriff "Brockenhaus" für Secondhand- beziehungsweise Sozialkaufhäuser gebräuchlich. Ein dunkler Moment in Bodelschwinghs Lebenslauf ist hingegen sein Werben um Verständnis für den Antisemitismus seines Freundes Adolf Stoecker.
Autofahrer halten sich nur bedingt an Tempo 30
All dies spielt eine untergeordnete Rolle bei den heutigen Meinungsverschiedenheiten um den Verkehr und die Gestaltung der Bodelschwinghstraße, dieser "Magistrale" der Karlstadter Siedlung. Wer dort wohnt, wünscht sich durchgehend eine Geschwindigkeitsbegrenzung auf Tempo 30. Diese wurde tatsächlich angeordnet, allerdings nur im südlichen Teil zwischen Tiefenweg und Arnsteiner Straße und nur werktags zwischen sieben und 18 Uhr. Dort befinden sich Schulen und der Kindergarten der "Heiligen Familie". Anwohner Holger Wilke berichtet, dass Autofahrerinnen und -fahrer außerhalb dieser Zeiten abends und an den Wochenenden teilweise ordentlich auf die Tube drücken würden.

Mehrmals gab es das Ansinnen, am Straßenrand Bäume zu pflanzen. "Wir haben das schon 1984 gefordert", berichtet Stadtrat Harald Schneider von der SPD. Der Grafiker Werner Hofmann habe damals für den Rat kandidiert und eine Skizze mit Bäumen und Parkbuchten angefertigt.
Zeitzeugen können Entstehung der einzelnen Abschnitte eingrenzen
1985 hatten die damals noch jungen Grünen dasselbe beantragt. Auch schlugen sie Zebrastreifen genau dort vor, wo gerade jetzt zur Europäischen Mobilitätswoche versuchsweise Querungshilfen eingerichtet sind. Beides wurde vom Stadtrat verworfen. Bäume könne man nicht pflanzen, hieß es, wegen zu flach liegender Versorgungsleitungen.
Zu den genauen Bauphasen der Bodelschwinghstraße kann die Stadtverwaltung keine genauen Angaben mehr machen. Doch Zeitzeugen ist es möglich, die Entstehung der einzelnen Abschnitte einzugrenzen.

In einem Flächennutzungsplan von 1954 sind in der "Ecke" der heutigen Bodelschwinghstraße/Echterstraße "Landwirtschaftliche Gehöfte" eingezeichnet. Tatsächlich wurde der Bauernhof Außenhofer dort gebaut, ebenso das Wohnhaus Bodelschwinghstraße 5a der Familie Schwehla. Zu den ersten Wohnhäusern dort zählt auch das 1956 errichtete Haus der Familie Frey mit der heutigen Adresse Bodelschwinghstraße 5.
Offenbar war damals noch nicht klar, wie die Bodelschwinghstraße einmal verlaufen würde. Alte Wege von der Stadt Richtung Saupurzel hingegen, an denen man sich orientieren konnte, gab es. Auf diesem Flächennutzungsplan von 1954 machte die spätere Bodelschwingstraße an der Einmündung der Querfurtstraße einen Knick. Sie wäre also nicht so geradlinig verlaufen wie heute. Außerdem waren rechts und links der Straße Grünstreifen eingezeichnet, genauso wie die Flächen für die Grundschule und die "Heilige Familie". Die Kirche wäre allerdings dorthin gekommen, wo sich jetzt der Ostfriedhof befindet.
1967 war die Bodelschwinghstraße noch eine Schotterpiste
1960 wurde der Grundstein für die Zentralschule gelegt. Eines der ersten Häuser östlich der mittleren Bodelschwinghstraße war das 1962 von Josef und Klara Müller errichtete – an der Ecke des Tiefenwegs. So kristallisierte sich allmählich der spätere Verlauf der Straße heraus. Als 1965 der Grundstein für das Pfarrzentrum "Zur Heiligen Familie" gelegt und die neue Kirche 1967 geweiht wurde, war die Bodelschwinghstraße noch eine Schotterpiste. Inzwischen gab es auch einen Bebauungsplan für den Abschnitt zwischen Groben- und Echterstraße. Darin waren entlang der Bodelschwinghstraße Bäume eingezeichnet, die aber nie gepflanzt wurden.

Laut Stadtarchiv war im März 1964 erstmals von der damals sogenannten Zehn-Meter-Straße die Rede. Im Oktober 1965 stellte ein Verkehrsgutachten für die Siedlung zwei große Nord-Süd-Verbindungen zur Abstimmung vor: Die Mozartstraße mit einer Breite von zwölf Metern und die Bodelschwinghstraße mit einer Breite von 15,50 Metern. Es regte sich Protest unter den Anwohnern, die fürchteten, vor ihrer Haustüre würden eine Umgehungsstraße entstehen. Einstimmig wurde die Bodelschwinghstraße als Nord-Süd-Verbindung auserkoren.
Spätestens 1972 war die Straße frisch asphaltiert
Dass eine solche nötig sei, stellte 1966 auch ein Verkehrsgutachter fest. Er bemerkte, dass in der gesamten Siedlung ein Straßendurcheinander herrsche, das von einer überlegten Planung weit entfernt sei. Die Bodelschwinghstraße solle in der Siedlung dieselbe Funktion erhalten wie die Hauptstraße in der Altstadt. Ein Jahr später legte der damalige zweite Bürgermeister Werner Hofmann die Projektierung der Straße vor.

Wann aber wurde sie tatsächlich asphaltiert? Eine Anwohnerin, die dort 1970 weggezogen ist, erinnert sich, dass die Straße zu diesem Zeitpunkt noch nicht befestigt war. Der Verfasser dieser Zeilen wiederum hatte spätestens 1972 mit seinem ersten Fahrrad versucht, auf der frisch asphaltierten Fahrbahn Geschwindigkeitsrekorde aufzustellen. Zunächst lagen die Kanaldeckel noch zu tief. Anscheinend war man früher von einem niedrigeren Fahrbahnniveau ausgegangen.
Die Bodelschwinghstraße reichte zunächst noch nicht bis zur Arnsteiner Straße, sondern endete beim Ostfriedhof. Vom Tiefenweg kommend, war sie eine abknickende Vorfahrtsstraße in die Korbstraße hinein, wie ein Foto von Mitte der 1970er Jahre beweist. Beim Bau der Hauptschule und des Gymnasiums war dort eine große Baustelle. Mit der Einweihung 1977 wurde auch die Bodelschwinghstraße durchgehend gebaut.

Im Norden war sie zwischen der Echterstraße und der Eußenheimer Straße noch nicht befestigt, als 1976 Heike und Richard Kohlmann in der Bodelschwinghstraße 8 bauten. 1979, bei der Eröffnung seiner Fahrschule, indes war sie asphaltiert, berichtet Kohlmann.
1986 wurde die Bodelschwinghstraße für den Schwerlastverkehr gesperrt
Schon bald lockte die breite Trasse zwischen den beiden Bundesstraßen Eußenheimer (B27) und Arnsteiner (B26) Straße auch überörtlichen Schwerlastverkehr an, der nun durch das Neubaugebiet rollte. 1986 entschieden die Stadträte, sie für Lastwagen über 7,5 Tonnen zu sperren. Nur bis zur Echterstraße dürfen Laster seitdem von der B27 aus einfahren, um das Gewerbegebiet zu erreichen.
Mit Ausnahme dieses Abschnitts sollte damals auch Tempo 30 auf der übrigen Bodelschwinghstraße eingeführt werden. Doch der Stadtrat folgte dieser Empfehlung des Bauausschusses nicht. In derselben Sitzung wurden die Ampeln an der Kreuzung Bodelschwinghstraße/Arnsteiner Straße beauftragt.

Mit der Eröffnung des Lebensmittelmarktes "Tegut" kam 1998 ein neuer Frequenzbringer in die Straße. Zuvor befand sich in dem Gebäude die Kleiderfabrik mit 180 Beschäftigten, die 1987 Konkurs anmeldete. Danach zog vorübergehend die Druckerei Michel-Druck ein.
Die Befürchtungen der Siedlungsbewohner in den 1960er Jahren wurden wahr
2007 erfolgte der Umbau der Kreuzung Bodelschwinghstraße/Eußenheimer Straße zum heutigen "Tegut-Kreisel". Denn der Verkehr hatte seit der Freigabe der Karolingerbrücke im Jahr 2005 stark zugenommen. Eine Zählung ergab damals 9310 Fahrzeuge auf der Bodelschwinghstraße, 3614 auf der Deponiestraße, 8992 auf der Eußenheimer Straße Richtung Westen und 6153 Richtung Eußenheim.
Heute leitet der Routenplaner überörtlichen Verkehr teilweise durch die Bodelschwinghstraße, so beispielsweise den von Lohr nach Thüngen. Die Befürchtungen der Siedlungsbewohner in den 1960er Jahren wurden also wahr. Die Straße ist nicht nur eine Sammelstraße für die Sieldung, sondern dient auch als Umgehungsstraße. Ob eine generelle Reduzierung auf Tempo 30 daran etwas ändern könnte?
Damals fielen die Kurven an der Hühnerzucht Warmuth (?) weg und die B 27 wurde schnurgerade zum Flugplatz hoch neu gebaut.
War ne spannende Zeit damals:so fortschrittsgläubig, unbekümmert und auch im Rückblick sehr blauäugig.