
Gerade mal vier Monate alt ist der Sohn von Tatjana Dick (31) aus Altfeld. Im Juli steht für das Baby mit der U5 die nächste Früherkennungsuntersuchung an. Welcher Arzt sie durchführen wird, steht noch nicht fest. Im Februar habe sie in der bisher behandelnden Kinderarztpraxis, die dem Medizinischen Versorgungszentrum (MVZ) Tauberfranken in Wertheim angehört, Termine für die nächsten Monate vereinbart. Doch die hat die Praxis kurzfristig storniert.
Seit Ende Mai verschickt das MVZ "Kündigungs"-Schreiben. Darin heißt es: Um den Praxisbetrieb aufrechterhalten zu können und die medizinische Versorgung für den Main-Tauber-Kreis zu gewährleisten, müsse aus Kapazitätsgründen die Reichweite der Versorgung eingeschränkt werden. Man müsse "Sie deshalb schweren Herzens bitten, sich einen neuen Kinderarzt zu suchen". Bestehende Termine seien gestrichen worden.
Eltern fahren künftig weitere Strecken zum Kinderarzt
In einem Aushang, der bereits im März an der Praxistür hing, ist zu lesen: Martin Englert, Facharzt für Kinder- und Jugendmedizin, sei jetzt alleiniger Arzt dort. Es sei ihm nicht möglich, alle Patienten weiterhin zu versorgen. "Ich halte Herrn Englert für einen sehr guten Arzt", so Dick. Sie könne sich nicht vorstellen, dass es ihm leicht falle, die "Kündigungen" zu verschicken.

Melissa Müller, ebenfalls aus Altfeld, hat für ihre Töchter, die acht und drei Jahre alt sind, noch keine "Kündigung" erhalten, rechnet aber damit. Die 32-Jährige sagt, sie habe schon Situationen erlebt, in denen sie dringend einen Termin für ihre Kinder beim Arzt gebraucht hätte. Auch wenn es lange dauere, bis man telefonisch jemanden erreicht, tue es gut, zumindest eine Nummer zu haben, an die man sich wenden könne. Sie wird künftig eine dreimal längere Fahrstrecke zur Praxis von Dr. Hermann Schrüfer in Hettstadt (Lkr. Würzburg) auf sich nehmen.
Marktheidenfelder Praxis kann Betroffene nicht versorgen
Die nächstgelegene Kinder- und Jugendarztpraxis ist in Marktheidenfeld, Dr. Joachim Müller-Scholden betreibt sie zusammen mit seinem Kollegen Dr. Matthias Böhme. Müller-Scholden teilt auf Anfrage mit, man könne dort keine Patientinnen und Patienten aus Wertheim übernehmen: "Wir sind personell und räumlich am Limit. Da spreche ich nicht nur für unsere Praxis, sondern für alle Kollegen in Main-Spessart." Lediglich Neugeborene, zugezogene und emigrierte Kinder nehme man auf.
Die prekäre Situation komme nicht überraschend. "Wir warnen seit vielen Jahren, dass sich etwas ändern muss." Er zählt eine Reihe Gründe dafür auf, darunter Fehlentscheidungen bei der Finanzierung, Mangel an Ärzten und Medizinischen Fachangestellten (MFA), Verwaltungsaufwand.
Online-Petition haben schon mehr als 3800 Menschen unterschrieben
Ramona Schäfer, eine Freundin der Mütter und ausgebildete MFA, sagt: "Das Ganze macht mich unglaublich wütend." Statt untätig herumzusitzen habe sie deshalb "aus einer Laune heraus" Ende Mai eine Online-Petition gestartet. Mehr als 3800 Menschen haben den Appell bis Montagmittag unterschrieben. Er richtet sich an Bundeskanzler Olaf Scholz und Gesundheitsminister Karl Lauterbach. Schäfer will ihn an Lokalpolitiker versenden und das Gespräch mit ihnen suchen.

In der Petition fordert sie: "Die ärztliche und kinderärztliche Versorgung in Main-Spessart und Umgebung muss dringend verbessert werden." Die Rahmenbedingungen müssten attraktiver gestaltet werden, damit sich wieder mehr Ärzte niederlassen können. Das Problem beziehe sich auch auf die umliegenden Landkreise und kreisfreien Städte und betreffe etwa auch die niedergelassenen Hausärzte.
Auch Hausärzte dürfen Kinder behandeln
Die Früherkennungsuntersuchungen ihrer eigenen, fast vierjährigen Tochter lässt sie in der Praxis ihrer Hausärztin durchführen. Doch das würden nur wenige Hausärzte machen, sagt sie. Auch die Altfelderin Veronika Albert (35) will in ihrer Hausarztpraxis anfragen, ob ihre drei und ein Jahr alten Kinder dort mitversorgt werden können.
Tatjana Dick wiederum sagt: "Ich möchte nicht, dass mein Kind beim Hausarzt behandelt wird." Sie fürchtet, dass die Ärztinnen und Ärzte zu wenig auf die speziellen Anforderungen von Babys und Kleinkindern eingehen können. Nachdem sie die "Kündigung" vom MVZ Tauberfranken erhalten hat, begann sie Praxen anzuschreiben. "Ich habe viele in Würzburg und Aschaffenburg kontaktiert und bisher nur Absagen erhalten." Noch während des Gesprächs erhält Dick den erlösenden Anruf. Sie kann Anfang August mit ihrem Baby nach Würzburg zum MVZ Klinikum Würzburg Mitte an der Missioklinik zur Untersuchung kommen.