
Dr. Elmar Barthel ist seit 25 Jahren Kinder- und Jugendarzt. 1994 übernahm der 58-Jährige, der aus Marktheidenfeld stammt, die Praxis seiner Vorgängerin Dr. Irene Seltsam in Gemünden. Sein Einzugsbereich ist seither immer weiter über Gemünden hinaus gewachsen: Aus ganz Main-Spessart hat er Patienten, außerdem aus dem Raum Hammelburg und Bad Kissingen und sogar aus dem hessischen Sinntal. Was ihm am meisten Sorge bereitet: In den vergangenen Jahren ist die Zahl der übergewichtigen Kinder stark angestiegen, eine Besserung nicht in Sicht.
Barthel, selbst Vater von zwei Töchtern, merkt man an, dass er mit Begeisterung Kinder- und Jugendarzt ist: "Eine ganz schöne Sache ist es, wenn man einen Säugling sieht, wie er sich bewegt und was für einen Charakter der schon hat", sagt er im Gespräch mit der Redaktion. "Wenn man sie als Jugendliche sieht, denkt man sich: Du warst als Kind schon so." Seine vielseitige Arbeit umfasse "eigentlich alle Disziplinen" – von der Platzwunde bis zu seelischen Problemen.
Bis 18 Uhr heißt "mindestens halb sieben, sieben"
Aber der Alltag ist fordernd. "Es gibt Tage, da ist es brechend voll", sagt Barthel über seine Praxis. Vor allem zur Infektzeit im Winter hat er am Tag bis zu 70 Patienten und mehr. Morgens um kurz nach 8 Uhr geht es los und nach der oft kurzen Mittagspause mit einem kleinen Nickerchen geht es bis "mindestens halb sieben, sieben". Offiziell schließe die Praxis zwar um 18 Uhr, aber das klappe höchstens im Sommer. "Ich will mir auch Zeit nehmen für meine Patienten." Leider beanspruche die Verwaltungsarbeit zunehmend Zeit in der Praxis.

Zum Thema Übergewicht bei Kindern sagt Barthel: "Ich fürchte, das wird noch schlimmer." Gut 15 Prozent der Kinder seien übergewichtig, über sechs Prozent sogar adipös, also stark übergewichtig. Als er anfing, waren es deutlich weniger. Es gebe sogar schon ältere Säuglinge mit Übergewicht, meist wenn sie eine Milchflasche nach der anderen bekommen, so Barthel. Er beobachte eine Gewichtszunahme aber vor allem nach der Einschulung.
Die Gründe für Übergewicht bei Kindern
Die Gründe liegen für ihn auf der Hand: falsche Ernährung – der Arzt spricht von "Hyperalimentation" (Überernährung) – und zu wenig Bewegung, vor allem bei Schulkindern. Hinzu komme ein oft unkontrollierter Umgang mit Handys und Tablets. Eltern und Kindern rate er immer: Nicht beim Fernsehen essen. Kinder sollten am besten Wasser (natürlich ungesüßtes) trinken. Dass Hausmeister in Schulen überzuckerte Getränke anbieten, findet er problematisch.
Positiv sieht er, dass heute Eltern wieder verstärkt Babybreie selber machen. Gläschen seien doch eher etwas für die Reise. "Ein bisschen an den Haaren herbeigezogen" findet er breifreie Babykost, auch "Baby-led Weaning" genannt. Da müssten Eltern gut darauf achten, dass das Kind nicht mangelernährt werde. "Mit Brei sind wir alle groß geworden."

Bücher statt Handys für Kleinkinder
In Sachen Medienkonsum rät Barthel: "Fernsehen ab drei frühestens, auf keinen Fall Kinder unkontrolliert mit elektronischen Medien umgehen lassen." Man dürfe es aber nicht dogmatisch sehen, es sei immer eine Sache des Maßes. Schlimm findet er Kinderspiele auf Smartphones, er habe schon Einjährige auf Handys herumspielen sehen. Eltern sollten mit Kindern Bücher anschauen und ihnen vorlesen oder -singen, das fördere die sprachliche Kompetenz.
Seiner Beobachtung nach seien Eltern heute nicht unsicherer als vor 25 Jahren. Unsicherheit gebe es vor allem beim ersten Kind. Und sehr alte Eltern seien beim ersten Kind oft "besonders ängstlich und besorgt". "Wenn das Zweite da ist, merkt man schon eine gewisse Gelassenheit." Er versucht Eltern aufzuklären, was sie selber machen können und woran sie erkennen, dass ein Kind zum Arzt sollte. Unbedingt zum Arzt sollte ein Kind, wenn es überhaupt nicht trinke, nicht gut ausscheide, wenn Fieber länger als drei Tage dauere. Ansonsten kämen Kinder mit bis zu 40 Grad Fieber oft relativ gut klar. Wenn das Kind einen trotz hohem Fieber anlache oder weiterspiele, müsse man nicht gleich kommen.

Schlimme Krankheiten können durch Impfungen verhindert werden
Impfverweigerer gebe es bei ihm eigentlich nicht mehr als früher. Die Zahl sei bei zwei, drei Prozent konstant geblieben. Er nennt Impfungen "einen großen Segen". "Ich sehe viele Krankheiten heute Gott sei Dank nicht mehr, die ich früher in meiner vorpraktischen Zeit im Krankenhaus noch gesehen habe" – etwa lebensbedrohliche Erkrankungen durch das Bakterium Haemophilus influenzae Typ B (Hib), "wo man, wenn ich es diagnostiziere, wegen drohender Erstickungsgefahr Mühe hat, die Kinder noch lebend ins Klinikum nach Würzburg zu bringen". Seit 1990 gebe es dagegen eine Impfung.
Er gibt zu bedenken, dass es keine banalen Erkrankungen, sondern schwere Krankheiten sind, gegen die geimpft werde. "Denjenigen, die es nicht wollen, drehe ich keinen Strick draus." Er hinterfrage aber die Motivation und kläre Eltern auf, dass Impfungen heute besser verträglich seien als früher – und lässt sich mit Unterschrift bestätigen, dass er sie aufgeklärt hat. Viele überlegten es sich später anders und ließen ihr Kind doch impfen. Er bekomme kaum Rückmeldungen über Probleme und habe bisher von keinem Impfschaden an seinen Patienten gehört.

Aufmerksamkeitsdefizit-Syndrom früher oft nicht erkannt
Beim Aufmerksamkeitsdefizit-Syndrom seien Ärzte heute viel aufmerksamer. Oft höre er, dass Eltern von Kindern, die darunter leiden, schon unkonzentriert oder hibbelig gewesen seien. Früher sei es eben oft nicht erkannt worden. Ob Medikamente nötig sind, hänge von der Schwere ab und wie stark die Erkrankung störe. Medikamente seien für manche ein Segen, manche blühen damit regelrecht auf in der Schule und im sozialen Bereich.
Um unabhängig zu sein, empfängt er seit Jahren schon keine Pharmareferenten mehr und ist Mitglied im Verein MEZIS ("Mein Essen zahl' ich selbst – Inititiative unbestechlicher Ärztinnen und Ärzte"). So habe er auch mehr Zeit für seine Patienten.
Bei Kindswohlgefährdungen schaltet er das Jugendamt ein
Was erschreckt: Der 58-Jährige erzählt von jährlich mehreren Fällen, in denen Kinder, auch Säuglinge, offenbar durch Gewalteinwirkung verletzt wurden. Bei Kindswohlgefährdungen informiert er auch das Jugendamt, ansonsten werde in der Klinik entschieden. Kürzlich erst hatte er wieder einen Fall, in dem ein Schutzplan zur Sicherstellung des Kindeswohls aufgestellt wurde.

Über die Bereitschaftsdienstregelung mit der zentralen KVB-Praxis in Lohr ist er nicht ganz glücklich. Zwar habe er viel weniger Dienste als früher, allerdings gebe es hier keinen kinderärztlichen Notdienst, weswegen er die kinderärztliche Versorgung außerhalb der Praxiszeiten "ganz ungünstig" findet. Barthel: "Die Kinder werden einfach nicht optimal versorgt." Die Kinder- und Jugendärzte in Main-Spessart hätten gern einen kinderärztlichen Notdienst gemacht, das sei aber abgelehnt worden.
Job-Sharing in der Arztpraxis
Weil die Belastung in der Praxis sehr hoch ist, habe er sehr bald einsehen müssen, dass er es alleine nicht mehr schafft. Weil es jedoch im Planungsbereich der Kassenärztlichen Vereinigung keine freie Stelle für einen Kollegen in der Praxis gegeben habe, entschied er sich für eine Form von Job-Sharing.
Er reduzierte etwas, hat Montagnachmittag und jeden zweiten Freitag frei. Vor 17 Jahren kam seine jetzige Kollegin Waltraud Khan, die eine Drittelstelle hat. Für ihn bedeute das mehr Lebensqualität und mehr Zeit für sein Hobbys: Singen in der Kantorei St. Michael in Lohr und im Würzburger Bachchor, Radfahren und Schwimmen. Zu zweit könne die Praxis außerdem das ganze Jahr über laufen.