
"Camino de Santiago" – der Jakobsweg. Für viele Spirituelle auf der ganzen Welt ist die Pilgerreise ins nordspanische Santiago de Compostela ein großes Ziel im Leben. Laut des Domkapitels der örtlichen Kathedrale machten sich 2023 circa 446 000 Menschen auf den Weg zur Grabstätte des heiligen Jakobus. Im Jahr 2024 beschloss auch Rainer Kenner aus Karlstadt, sich der Herausforderung zu stellen.
Der 51-jährige ehemalige Gastronom war im Frühjahr 40 Tage lang auf dem Jakobsweg unterwegs. 930 Kilometer hatte er am Ende in den Beinen, die meisten davon lief er auf dem "Camino Francés", dem populärsten Abschnitt des europaweiten Netzes an Pilgerwegen. Von den Pyrenäen durchlief er Nordspanien fast komplett von Ost nach West bis an den Atlantik. Tagestrecken von 35 Kilometern Länge waren keine Seltenheit.

Der 84-jährige Willi Desch pilgerte ebenfalls schon auf dem Jakobsweg, zum ersten Mal 2002 beim Eintritt ins Rentenalter. Er absolvierte die Strecke schon sowohl von Deutschland aus als auch mit Start in Wien. Mehr als drei Monate Zeit nahm er sich jeweils dafür. Kenner und Desch tauschten sich jetzt über ihre Erfahrungen aus.
"Nichts zu verarbeiten, einfach nur gelaufen"
Rainer Kenner entschloss sich zur Reise auf dem "Camino Francés", nachdem seine Zeit als Wirt im Lokal "Liesl Karlstadt" zu Ende ging. "Da ist alles nicht so richtig rund gelaufen, dann hab ich gesagt, ich fange noch mal neu an. Ich bin jetzt 50 und da gehört der Jakobsweg dann einfach dazu, um zu mir selbst zu finden."
Für die Zeit des Weges hat sich Rainer Kenner einen imaginären Sack gepackt, gefüllt mit Problemen, denen er sich widmen wollte. "Die ersten drei Tage ging einfach nichts. Ich war total verkrampft, ich konnte nichts verarbeiten", erzählt er. Dann hat er es mit dem Nachdenken sein lassen und ist einfach nur gelaufen. "Und irgendwann ist es dann passiert und es war alles einfach. Du siehst die komplette Sache dann plötzlich anders, du siehst besser, du nimmst Gerüche anders wahr, du umarmst die Leute, die du gar nicht kennst. Es ist ein erfüllendes Gefühl."
Als Kenner für sich feststellte, dass er gar nichts wirklich zu verarbeiten hatte, widmete er jeden Tag einem anderen Menschen – manchmal Verstorbenen, manchmal Menschen, die noch am Leben sind. Er dachte dann an die schönen Zeiten, die er mit den Personen verbindet.
Touristenbusse kurz vor dem Ziel
Dass Willi Desch einmal den Jakobsweg gehen wird, beschloss er bereits "in den 60er-, 70er-Jahren" nachdem er mit schwerem Asthma zu kämpfen hatte. "Ich hab mir geschworen, wenn ich die Rente erlebe, lauf’ ich nach Santiago." 2002 sei der Jakobsweg noch deutlich weniger gut ausgebaut gewesen. "Zu meiner Zeit musstest du am Tag 35 Kilometer gehen, wenn du eine Unterkunft wolltest. Dann haben wir in den Massenlagern mit viel Schweiß und Gestank übernachtet. Alle acht Tage hat man sich mal ein Hotel genommen", erzählt Desch.
Desch und Kenner sind sich einig, dass die körperlichen Anstrengungen zu Beginn nicht zu unterschätzen sind. Nach einigen Tagen entwickle man allerdings einen Automatismus, der einen immer zum Weiterlaufen antreibe. Schmerzen empfinde man dann quasi keine mehr.

Zwar nicht der Jakobsweg im Ganzen, aber zumindest der "Camino Francés" ist für Rainer Kenner inzwischen weitestgehend kommerzialisiert worden. "Vor allem die letzten 200 Kilometer, die man für die Urkunde braucht. Da steigen dann Südkoreaner aus den Bussen, schön angezogen, mit weißen Schuhen und du selbst bist schon 700 Kilometer gelaufen und fragst dich auch, was hier los ist." sagt Rainer Kenner.
Trotz all der Kommerzialisierung ist der Jakobsweg dennoch eine religiöse Pilgerfahrt. Religion ist für Kenner schon immer wichtig gewesen: "Aber es muss nicht unbedingt die römisch-katholische Kirche sein, es kann auch der Buddhismus oder der Islam sein. Wenn man versucht, etwas zu verarbeiten und zu sich zu finden, hat das ja auch etwas Spirituelles. Und solche Menschen trifft man auf dem Jakobsweg."
Gelassenheit mit nach Hause genommen
Von seiner 40-tägigen Reise nimmt Kenner neben vielen neuen Bekanntschaften vor allem eines mit: Gelassenheit. Einer seiner Mitpilger sagte ihm, dass diese in seinem Leben fehle. Als er auf einem Stein am Wegesrand dann tatsächlich das deutsche Wort "Gelassenheit" geschrieben sah, empfand er das als ein Zeichen. In stressigen Situationen erinnert er sich heute an diesen Moment.

Wer darüber nachdenkt, den Jakobsweg zu laufen, bekommt von Rainer Kenner den Tipp, einfach zu gehen. "Man kann nirgendwo verloren gehen und man ist überall sicher. Du bist während der ganzen Reise eigentlich nie allein und alle sind eine große Familie."
Kenner selbst möchte den Jakobsweg in Zukunft noch ein weiteres Mal beschreiten, dann aber auf einer anderen Route abseits des "Camino Francés". "Dann gehst du auch in Frankreich los", empfiehlt ihm Willi Desch. "Da ist es nämlich schöner, weil nicht so viel los ist." Desch selbst hat sich aufgrund von Herzproblemen als Wanderer weitestgehend zur Ruhe gesetzt. "Das Weiteste, was ich in den letzten Jahren gewandert bin, war von Eußenheim nach Karlstadt", erzählt er lachend.