
Schlechte Umfragewerte auf Bundesebene und jetzt das geplatzte Regierungs-Aus: Für Deutschlands älteste Partei waren die Zeiten schon rosiger. Doch wie sieht es auf lokaler Ebene aus? In Karlstadt feiert der SPD-Ortsverein 2024 sein 120-jähriges Bestehen. Erhard Köhler (86) ist seit über 60 Jahren Mitglied. Er hat als Gemeinderat in Karlburg und Stadtrat in Karlstadt wichtige Entscheidungen der vergangenen Jahrzehnte mit auf den Weg gebracht. Softwareentwickler Frederick Arand (36) ist seit vier Jahren SPD-Mitglied, noch ohne Mandat. Er setzt sich unter anderem für Solaranlagen auf den Dächern der Altstadt ein.
Im Gespräch mit dieser Redaktion zeigen die beiden Genossen, wie sich das politische Selbstverständnis und die Art und Weise, Politik zu machen und zu vermitteln, verändert hat.
Erhard Köhler: Olaf Scholz war ein guter Finanzminister. Als Kanzler ist er zu leise, das hat er vernachlässigt. Jedoch teile ich die meisten seiner Entscheidungen.
Frederick Arand: Man kann über diese Regierungskoalition sagen, was man möchte: Die auslaufende Corona-Pandemie und die Energiekrise wurden gut gemeistert. Deutschlandticket und Mindestlohnerhöhung zeigen, dass die Zusammenarbeit am Anfang geklappt hat.

Köhler: Auf einer Veranstaltung kam damals ein Würzburger vom SPD-Unterbezirk auf mich zu und hat gefragt: 'Willst du nicht zur SPD?' Das war schon überraschend, aber auch neu und schön. Das System der SPD hat mir gefallen. Wenn die Parteihymne 'Brüder, zur Sonne, zur Freiheit' geschmettert wurde, hat mich das immer gerührt. Nach und nach habe ich neue Leute kennengelernt, das war eine Bereicherung für mich. Etwa die beiden SPD-Bürgermeister Karl-Heinz Keller und Werner Hofmann. Da haben sich echte Freundschaften entwickelt.

Köhler: Auf dem Land gab es damals nur die CSU mit Frau Dr. Probst aus Hammelburg (Anmerkung der Redaktion: Maria Probst war Mitgründerin der CSU und vertrat als Abgeordnete den Wahlkreis Karlstadt im Parlament). Und dann kam ich in Karlburg daher mit der SPD. Das war ein Paukenschlag. Wir haben jahrelang um Mitglieder geworben, etwa mit eigenen Festen. Das wurde angenommen, man hat dadurch die Jugend angesprochen. Aber es war viel Arbeit. Damals gab es rund 15 SPD-Mitglieder in Karlstadt. Die CSU hatte viel mehr. Ich war da aber immer sehr tolerant.
Köhler: Ich bin in einem alten Bauernhaus in Karlburg aufgewachsen. Wir haben uns an die ersten Umlegungspläne für Baugebiete gemacht. Das war mein Ansporn, weil ich raus aus der alten Bude wollte. Manche Leute, vor allem ältere, haben das System der Baulandumlegung nicht richtig verstanden und auf ihre Zwetschgen-Äcker gepocht. Da brauchte es Zeit. Eine ältere Dame in der unteren Siedlung habe ich dann bei einem Gläschen Sekt überzeugt. Mit der Brechstange ging das nie.

Arand: Ich bin 2019 nach dem Studium zurück nach Karlstadt gezogen. Dort wurde ich von Harald Schneider angesprochen, ob ich für den Stadtrat kandidieren will. Zwar war ich vorher nicht besonders SPD-nah, jedoch war die oft pragmatische Politik der Partei nie ein Ausschlusskriterium für mich. Die Stadt Karlstadt wurde 36 Jahre am Stück von SPD-Bürgermeistern geprägt, das ist eine gute Sache, habe ich mir gedacht. Man kann auch ohne Parteibuch auf die Stadtratsliste, ich wollte es dann aber ganz oder gar nicht. In einer Kleinstadt kann man eigene lokalpolitische Ideen am schnellsten über den Ortsverein einbringen.
Köhler: Die Sozialisten hatten damals einen anrüchigen Ruf, der nicht gestimmt hat. Wir hatten aber auch damit zu kämpfen, dass die Alten sehr konservativ waren. Ein Beispiel: Die Mittelschule sollte in Karlstadt geboren werden. Da gab es hitzige Diskussionen. Nicht jeder wollte, dass alle Schüler künftig nach Karlstadt gehen. Ich aber schon. Mit einem CSU-Kollegen im Stadtrat habe ich so heiß diskutiert, Nase an Nase, dass wir danach kein Bier miteinander getrunken haben (lacht). Das gab's sonst nie! Damals war der Lokalpatriotismus noch viel größer als heute. Das hat sich auch bei der Gebietsreform gezeigt. Heute ist das vorbei.
Arand: Das stimmt. Für mich ist das kein Gesprächsthema. Ich finde es sehr schön, dass man damals so intensiv über lokalpolitische Themen geredet hat. Da wurden noch Grundlagen geschaffen. Die Leute hatten die gleiche Diskussionsgrundlage und haben sich über Parteien hinweg miteinander auseinandergesetzt. Man hat mit einem gewissen Stolz gezeigt, dass man in einer Partei ist. Und eine Meinung hat, die man vertritt, aber trotzdem diskussionsbereit bleibt.
Arand: Im Stadtrat wird sicher sehr gut diskutiert. Die Mandatsträger sind bedingt durch das Wahlverhalten oft sehr lange Zeit im Stadtrat. Da lernt man eine gewisse politische Kultur. Es gibt sicher Parallelen zu früher, etwa, dass Leute über Bürgerbewegungen in den Stadtrat kommen. Hinsichtlich Mitgliedergewinnung ist der SPD der eigene Erfolg zum Verhängnis geworden. Früher kamen Leute noch wegen Sorgen über Arbeit, Rente und sozialer Sicherheit in die Partei.

Arand: Bezahlbarer Wohnraum und Kinderbetreuung sind weiterhin relevante sozialdemokratische Themen. Umweltschutz ist beispielsweise wichtig, aber weiter weg von unseren Wurzeln.
Köhler: Der Partei ist der Kern geblieben, aber der Kern sind alte Themen - und die kommen nicht mehr so gut an. Die Jugend will die alten Kamellen nicht mehr hören. Obwohl die sehr interessant und elementar waren.
Arand: Der Ortsverein betreibt Social-Media-Accounts. Wir sind aber nicht auf TikTok. Wenn die nächsten Wähler dort aber unterwegs sind, dann muss man sich da dahinter setzen. Das Problem ist: In kurzen Videoschnipseln kann man schwer komplexe Themen und komplexe Antworten darstellen. Migrationsprobleme werden nicht durch "Ausländer raus gelöst", die wenigsten Arbeitslosen sind es gerne.

Köhler: Unsere Familie war beinahe selbst von der Vernichtungspolitik der Nazis betroffen. Das geht mir immer noch sehr nahe. Es fällt schwer, das nachzuvollziehen, wenn man es nicht selbst erlebt hat. Die heutige Jugend ist in einer guten Zeit aufgewachsen und nicht offen für Gespräche über solche Themen.
Arand: Wir sollten zuerst gut zuhören. Oft genug haben die Leute berechtigte Sorgen. Im Idealfall kann man sie danach entkräften oder bessere Lösungen vorschlagen.
Köhler: Kaum. Es sind eher Einzelkämpfer, die hier etwas bewegen.
Arand: Als kleinste Stadtratsfraktion macht die SPD wahnsinnig viele Anträge und bringt gute Ideen ein, zuletzt etwa den Bürgerbus durch Harald Schneider. Die größte Herausforderung ist, die politische Arbeit des Ortsvereins gut zu kommunizieren. Nur wenn wir das schaffen, bekommen wir 24 Personen auf die nächste Stadtratsliste.
Köhler: Ich bin mit Karl-Heinz Keller damals von Haus zu Haus gelaufen, um die Leute von unseren Ideen zu überzeugen und ins Gespräch zu kommen. Ihn und Werner Hofmann im Wahlkampf zu unterstützen – das waren meine größten Erfolge.
Arand: Für mich sind es die Altstadtsanierung, bei der es viele Bedenken gab und für die sich Keller eingesetzt hat. Das andere ist die Freibaderneuerung. Damals hat die SPD eine Postkartenumfrage gemacht und Meinungen gesammelt. Und der Vorschlag, den die Bevölkerung mehrheitlich getragen hat, wurde dann umgesetzt. Das ist funktionierende Lokalpolitik.