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Karlstadt
120 Jahre SPD in Karlstadt: Was hat Deutschlands älteste Partei den Menschen auf dem Land noch zu bieten?
Frederick Arand ist seit 2020 im Ortsverein, Erhard Köhler seit 1963: Was hat die Partei aus der Vergangenheit gelernt? Und wie erreicht sie junge Menschen?
Frederick Arand (links) und Erhard Köhler diskutieren über die Zukunft der Karlstadter SPD. Wie blicken sie als junges und langjähriges Parteimitglied auf die Entwicklungen?
Foto: Stefanie Koßner | Frederick Arand (links) und Erhard Köhler diskutieren über die Zukunft der Karlstadter SPD. Wie blicken sie als junges und langjähriges Parteimitglied auf die Entwicklungen?
Stefanie Koßner
 |  aktualisiert: 26.12.2024 02:36 Uhr

Schlechte Umfragewerte auf Bundesebene und jetzt das geplatzte Regierungs-Aus: Für Deutschlands älteste Partei waren die Zeiten schon rosiger. Doch wie sieht es auf lokaler Ebene aus? In Karlstadt feiert der SPD-Ortsverein 2024 sein 120-jähriges Bestehen. Erhard Köhler (86) ist seit über 60 Jahren Mitglied. Er hat als Gemeinderat in Karlburg und Stadtrat in Karlstadt wichtige Entscheidungen der vergangenen Jahrzehnte mit auf den Weg gebracht. Softwareentwickler Frederick Arand (36) ist seit vier Jahren SPD-Mitglied, noch ohne Mandat. Er setzt sich unter anderem für Solaranlagen auf den Dächern der Altstadt ein. 

Im Gespräch mit dieser Redaktion zeigen die beiden Genossen, wie sich das politische Selbstverständnis und die Art und Weise, Politik zu machen und zu vermitteln, verändert hat.

Frage: Eigentlich sollte es in unserem Gespräch weniger um die Bundespolitik gehen. Doch jetzt ist mehr oder weniger überraschend die Ampel-Regierung geplatzt. Was sagen Sie dazu?

Erhard Köhler: Olaf Scholz war ein guter Finanzminister. Als Kanzler ist er zu leise, das hat er vernachlässigt. Jedoch teile ich die meisten seiner Entscheidungen.

Frederick Arand: Man kann über diese Regierungskoalition sagen, was man möchte: Die auslaufende Corona-Pandemie und die Energiekrise wurden gut gemeistert. Deutschlandticket und Mindestlohnerhöhung zeigen, dass die Zusammenarbeit am Anfang geklappt hat.

Der spätere SPD-Bundeskanzler Willy Brandt besuchte am 5. August 1961 Karlstadt.
Foto: Harald Schneider | Der spätere SPD-Bundeskanzler Willy Brandt besuchte am 5. August 1961 Karlstadt.
Herr Köhler, Sie sind seit über 60 Jahren Mitglied der SPD in Karlstadt. Was hat Sie damals dazu bewogen, Parteimitglied zu werden? 

Köhler: Auf einer Veranstaltung kam damals ein Würzburger vom SPD-Unterbezirk auf mich zu und hat gefragt: 'Willst du nicht zur SPD?' Das war schon überraschend, aber auch neu und schön. Das System der SPD hat mir gefallen. Wenn die Parteihymne 'Brüder, zur Sonne, zur Freiheit' geschmettert wurde, hat mich das immer gerührt. Nach und nach habe ich neue Leute kennengelernt, das war eine Bereicherung für mich. Etwa die beiden SPD-Bürgermeister Karl-Heinz Keller und Werner Hofmann. Da haben sich echte Freundschaften entwickelt.

Wie war in den 1960er-Jahren die politische Stimmung in Karlstadt?
Erhard Köhler aus Karlburg, 86 Jahre, ist seit 1963 Mitglied der SPD Karlstadt. 
Foto: Stefanie Koßner | Erhard Köhler aus Karlburg, 86 Jahre, ist seit 1963 Mitglied der SPD Karlstadt. 

Köhler: Auf dem Land gab es damals nur die CSU mit Frau Dr. Probst aus Hammelburg (Anmerkung der Redaktion: Maria Probst war Mitgründerin der CSU und vertrat als Abgeordnete den Wahlkreis Karlstadt im Parlament). Und dann kam ich in Karlburg daher mit der SPD. Das war ein Paukenschlag. Wir haben jahrelang um Mitglieder geworben, etwa mit eigenen Festen. Das wurde angenommen, man hat dadurch die Jugend angesprochen. Aber es war viel Arbeit. Damals gab es rund 15 SPD-Mitglieder in Karlstadt. Die CSU hatte viel mehr. Ich war da aber immer sehr tolerant.

Was waren politische Themen in Karlstadt, für die Sie sich eingesetzt haben?

Köhler: Ich bin in einem alten Bauernhaus in Karlburg aufgewachsen. Wir haben uns an die ersten Umlegungspläne für Baugebiete gemacht. Das war mein Ansporn, weil ich raus aus der alten Bude wollte. Manche Leute, vor allem ältere, haben das System der Baulandumlegung nicht richtig verstanden und auf ihre Zwetschgen-Äcker gepocht. Da brauchte es Zeit. Eine ältere Dame in der unteren Siedlung habe ich dann bei einem Gläschen Sekt überzeugt. Mit der Brechstange ging das nie.

Dr. Frederick Arand aus Karlstadt, 36 Jahre, ist seit 2020 Mitglied der Karlstadter SPD
Foto: Stefanie Koßner | Dr. Frederick Arand aus Karlstadt, 36 Jahre, ist seit 2020 Mitglied der Karlstadter SPD
Herr Arand, Sie sind 2020 der Karlstadter SPD beigetreten. Warum?

Arand: Ich bin 2019 nach dem Studium zurück nach Karlstadt gezogen. Dort wurde ich von Harald Schneider angesprochen, ob ich für den Stadtrat kandidieren will. Zwar war ich vorher nicht besonders SPD-nah, jedoch war die oft pragmatische Politik der Partei nie ein Ausschlusskriterium für mich. Die Stadt Karlstadt wurde 36 Jahre am Stück von SPD-Bürgermeistern geprägt, das ist eine gute Sache, habe ich mir gedacht. Man kann auch ohne Parteibuch auf die Stadtratsliste, ich wollte es dann aber ganz oder gar nicht. In einer Kleinstadt kann man eigene lokalpolitische Ideen am schnellsten über den Ortsverein einbringen.

Sowohl früher als auch heute hat und hatte die SPD Mühe, Parteimitglieder zu gewinnen. Warum?

Köhler: Die Sozialisten hatten damals einen anrüchigen Ruf, der nicht gestimmt hat. Wir hatten aber auch damit zu kämpfen, dass die Alten sehr konservativ waren. Ein Beispiel: Die Mittelschule sollte in Karlstadt geboren werden. Da gab es hitzige Diskussionen. Nicht jeder wollte, dass alle Schüler künftig nach Karlstadt gehen. Ich aber schon. Mit einem CSU-Kollegen im Stadtrat habe ich so heiß diskutiert, Nase an Nase, dass wir danach kein Bier miteinander getrunken haben (lacht). Das gab's sonst nie! Damals war der Lokalpatriotismus noch viel größer als heute. Das hat sich auch bei der Gebietsreform gezeigt. Heute ist das vorbei.

Arand: Das stimmt. Für mich ist das kein Gesprächsthema. Ich finde es sehr schön, dass man damals so intensiv über lokalpolitische Themen geredet hat. Da wurden noch Grundlagen geschaffen. Die Leute hatten die gleiche Diskussionsgrundlage und haben sich über Parteien hinweg miteinander auseinandergesetzt. Man hat mit einem gewissen Stolz gezeigt, dass man in einer Partei ist. Und eine Meinung hat, die man vertritt, aber trotzdem diskussionsbereit bleibt.

Wie empfinden Sie das heute?

Arand: Im Stadtrat wird sicher sehr gut diskutiert. Die Mandatsträger sind bedingt durch das Wahlverhalten oft sehr lange Zeit im Stadtrat. Da lernt man eine gewisse politische Kultur. Es gibt sicher Parallelen zu früher, etwa, dass Leute über Bürgerbewegungen in den Stadtrat kommen. Hinsichtlich Mitgliedergewinnung ist der SPD der eigene Erfolg zum Verhängnis geworden. Früher kamen Leute noch wegen Sorgen über Arbeit, Rente und sozialer Sicherheit in die Partei.

Der heutige Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier war 2019 in Karlstadt auf dem Flaak-Weinfest zu Gast.
Foto: Jürgen Kamm (Archivfoto) | Der heutige Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier war 2019 in Karlstadt auf dem Flaak-Weinfest zu Gast.
Hat sich die SPD auf dem Land mittlerweile zu weit von ihren Wurzeln entfernt?

Arand: Bezahlbarer Wohnraum und Kinderbetreuung sind weiterhin relevante sozialdemokratische Themen. Umweltschutz ist beispielsweise wichtig, aber weiter weg von unseren Wurzeln.

Köhler: Der Partei ist der Kern geblieben, aber der Kern sind alte Themen - und die kommen nicht mehr so gut an. Die Jugend will die alten Kamellen nicht mehr hören. Obwohl die sehr interessant und elementar waren. 

Ist es für die SPD schwer, gerade die junge Generation noch mit ihrer Politik zu erreichen?

Arand: Der Ortsverein betreibt Social-Media-Accounts. Wir sind aber nicht auf TikTok. Wenn die nächsten Wähler dort aber unterwegs sind, dann muss man sich da dahinter setzen. Das Problem ist: In kurzen Videoschnipseln kann man schwer komplexe Themen und komplexe Antworten darstellen. Migrationsprobleme werden nicht durch "Ausländer raus gelöst", die wenigsten Arbeitslosen sind es gerne.

Renate Schmidt, damalige SPD-Landesvorsitzende, bei ihrem Besuch am 21. Mai 1995 in Karlstadt.
Foto: Harald Schneider | Renate Schmidt, damalige SPD-Landesvorsitzende, bei ihrem Besuch am 21. Mai 1995 in Karlstadt.
Trotzdem zeigt die vergangene Landtagswahl, dass auch die AfD in Main-Spessart Wählerinnen und Wähler dazugewinnt. 

Köhler: Unsere Familie war beinahe selbst von der Vernichtungspolitik der Nazis betroffen. Das geht mir immer noch sehr nahe. Es fällt schwer, das nachzuvollziehen, wenn man es nicht selbst erlebt hat. Die heutige Jugend ist in einer guten Zeit aufgewachsen und nicht offen für Gespräche über solche Themen. 

Arand: Wir sollten zuerst gut zuhören. Oft genug haben die Leute berechtigte Sorgen. Im Idealfall kann man sie danach entkräften oder bessere Lösungen vorschlagen.

Holt die SPD die Menschen auf dem Land heute noch mit ihren Themen ab?

Köhler: Kaum. Es sind eher Einzelkämpfer, die hier etwas bewegen.

Arand: Als kleinste Stadtratsfraktion macht die SPD wahnsinnig viele Anträge und bringt gute Ideen ein, zuletzt etwa den Bürgerbus durch Harald Schneider. Die größte Herausforderung ist, die politische Arbeit des Ortsvereins gut zu kommunizieren. Nur wenn wir das schaffen, bekommen wir 24 Personen auf die nächste Stadtratsliste.

Was waren die größten Erfolge der SPD in Karlstadt?

Köhler: Ich bin mit Karl-Heinz Keller damals von Haus zu Haus gelaufen, um die Leute von unseren Ideen zu überzeugen und ins Gespräch zu kommen. Ihn und Werner Hofmann im Wahlkampf zu unterstützen – das waren meine größten Erfolge. 

Arand: Für mich sind es die Altstadtsanierung, bei der es viele Bedenken gab und für die sich Keller eingesetzt hat. Das andere ist die Freibaderneuerung. Damals hat die SPD eine Postkartenumfrage gemacht und Meinungen gesammelt. Und der Vorschlag, den die Bevölkerung mehrheitlich getragen hat, wurde dann umgesetzt. Das ist funktionierende Lokalpolitik.

Die SPD in Karlstadt

1904 gründete sich in Karlstadt der Ortsverein. Die Partei unterstütze die Arbeiterbewegung beim Ringen um soziale Grundrechte. Die meisten Bürgerinnen und Bürger waren damals kaisertreu und beäugten die Sozialisten argwöhnisch.
Am 23. Juni 1933 wurde die SPD verboten. In Karlstadt saßen damals zwei SPD-Mitglieder im Stadtrat. Sie wurden verhaftet. Drei weitere Genossen kamen in ein Konzentrationslager.
1946 wurde die SPD in Karlstadt durch Georg Hombach, Franz und Christian Kahl neu gegründet.
Die beiden SPD-Bürgermeister Werner Hofmann (im Amt von 1973 bis 1991) und Karl-Heinz Keller (1990 bis 2008) prägten zusammen 36 Jahre lang die Entwicklungen der Stadt. Ein großes Projekt war die umfangreiche Altstadtsanierung.
Quelle: SPD Karlstadt/ Harald Schneider
 
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