Davon, wie das alles seinen Anfang nahm mit der Oma im Kinderzimmer, gibt es unterschiedliche Versionen. Wie die drei Hufnagels da am Tisch sitzen im hellen, offenen Wohnraum und darüber scherzen, zeigt schnell ein Erfolgsgeheimnis dieser ungewöhnlichen Wohngemeinschaft in Großlangheim. Ungewöhnlich deshalb, weil nicht etwa ein Kind das Elternhaus der Mutter übernommen hat und diese darin wohnen geblieben ist. Amanda Hufnagel hat ihr Haus aufgegeben. Einfach so – mit 88.
Das war im Herbst 2019, ein halbes Jahr nach dem besagten Gespräch, von dessen Verlauf die Beteiligten mehrere Varianten kennen. Aber eigentlich ist es egal, dass es letztlich die Schwiegertochter Sabine Hufnagel war, die den Satz ausgesprochen hat: "Dann kommst du zu uns." Schon im Vorfeld hatte sie mit ihrem Mann besprochen, was passiert, sollte Amanda Hufnagel in ihrem Haus im selben Ort nicht mehr alleine zurechtkommen. Norbert Hufnagel ergänzt: "Wir waren uns einig, dass wir bereit sind, sie aufzunehmen."
Regelmäßiger Gast bei Sohn und Schwiegertochter war Amanda Hufnagel seit dem Tod ihres Mannes Max 2013: Das gemeinsame Mittagessen sonntags war gesetzt. So auch im Mai 2019. Der Winter war lang und kalt gewesen in Amandas schlecht gedämmtem Haus in der Hauptstraße. Eine Nachbarin war gestorben, die andere musste lange ins Krankenhaus. Dann kam der Vorschlag der Schwiegertochter – und nur eine Woche später sagte ihre Schwiegermutter zu.
Sie trennte sich erstaunlich schnell von diesem Haus voller Dinge aus einem langen Leben. "Da sieht man, was man für ein Gerümpel hat", sagt die 91-Jährige beim Gespräch trocken. Auf den Hinweis ihrer Schwiegertochter, wie mutig es sei, nochmal komplett neu anzufangen, geht sie gar nicht groß ein. Das sei nicht schwierig gewesen, winkt sie ab. Ebenso bei der Frage, ob sie Sehnsucht habe nach den eigenen vier Wänden.
Die 91-jährige Amanda Hufnagel genießt das WG-Leben zu dritt
Stattdessen scheint die Seniorin das WG-Leben zu genießen. Im 1. Stock hat ihr das Ehepaar ein Schlaf- und ein Wohnzimmer in zwei der früheren Kinderzimmer eingerichtet. "Wir harmonieren gut zusammen", sagt Amanda über das Zusammenleben zu dritt. Von der jüngeren Generation kommt nickende Zustimmung. Und ihr 64-jähriger Sohn fügt hinzu: "Wir sind großzügig miteinander." Das bedeutet auch, wie es seine Frau formuliert: "Vieles kann, nichts muss. " Das gelte auch für die Unterstützung im Haushalt.
Wo früher eine Tafel die Aufgaben für die Kinder Anna, Philipp und Daniel anzeigte, hilft deren Oma heute freiwillig mit. Sie räumt die Spülmaschine aus und ist im Lauf der gut drei Jahre in der WG zur "Salatbeauftragten" geworden, sagt ihre Schwiegertochter und lacht.
Die beiden Frauen beginnen ihren Tag meist mit einem gemeinsamen Frühstück. Im Anschluss macht die 59-jährige Sabine erste Hausbesuche als selbstständige Hebamme. Ihr Mann sitzt da schon längst am Schreibtisch in seinem Architekturbüro, das als Mini-Haus neben dem Wohnhaus steht. Er betont, dass seine Frau den Großteil der Arbeit zusammen mit seiner Mutter schultert.
Mit dem Rollator läuft Amanda Hufnagel quer durchs ganze Dorf
Wobei es die 91-Jährige ihren Mitbewohnern leicht macht und bislang wenig Unterstützung benötigt. Wichtig ist der regelmäßige Transfer mit dem Auto von der am Ortsrand gelegenen Wohnsiedlung Am Viehtrieb ins Zentrum der 1600-Seelen-Gemeinde. Von dort läuft Amanda dann allein mit dem Rollator zurück, nutzt unterschiedliche Strecken, trifft immer wieder bekannte Gesichter für ein kurzes Gespräch.
Ein "gewisses Netzwerk" erklärt ihr Sohn, sei Voraussetzung für das Gelingen eines solchen Zusammenlebens. So verbringt die Seniorin den Montag in der Tagespflege in Iphofen, wo sie auf andere Damen aus Großlangheim trifft – und das nach ihrer Aussage genießt. Mittwochs ist sie ab Mittag bei ihrer Tochter Doris Zwosta in Rödelsee, woher sie stammt. Und die Nachbarn oder der noch im Dorf lebende Sohn Philipp schauen sich um, wenn Sabine und Norbert Hufnagel Sohn Daniel in Berlin oder Tochter Anna in München besuchen – oder länger verreisen.
Sabine und Norbert Hufnagel würden ihr großes Haus aufgeben
Das ist dem Ehepaar wichtig: unterwegs sein zu können. Gerne aber auch mit Amanda Hufnagel bei Ausflügen in die nähere Umgebung. Letztes Jahr schaffte die Seniorin sogar noch die 300 Stufen von der Gaststätte am Kreuzberg hoch zur Kreuzigungsgruppe. Eine Fahrt nach München zu ihrer Urenkelin schwebt noch als Gedanke für 2023 im Raum.
Die Frage, wie es weitergeht, sollte Amanda mehr Betreuung brauchen oder pflegebedürftig werden, will das Trio auf sich zukommen lassen. Sabine Hufnagel kann sich vorstellen, ihre rund 30 Stunden Arbeit pro Woche als Hebamme zu reduzieren, aber ganz aufgeben will sie ihren Beruf ebenso wenig wie ihr Mann. Zu viel Freude hat der 64-Jährige noch an seinem Job als selbstständiger Architekt.
Alternative Wohnformen im Alter wären eine gute Option
Nicht nur von Berufs wegen beschäftigt ihn die Frage nach dem Wohnen im Alter. Seine Frau und er könnten sich gut vorstellen, mit anderen Gleichaltrigen eine WG zu gründen und schauen sich schon jetzt nach alternativen Wohnformen um. Ihr Haus mit 170 Quadratmetern Wohnfläche und ähnlich viel Nutzfläche inklusive Büro und Praxisräumen sei jedenfalls unwirtschaftlich im Alter. Und Norbert sieht es "als ein Stück weit unverantwortlich, darin zu zweit wohnen zu bleiben".
Vielleicht werden sie sich eines Tages genauso schnell davon trennen wie seine Mutter das getan hat. Es sei schwierig, den passenden Bedarf im Voraus zu planen, das erlebt der Architekt immer wieder. Das "Haus für alle Fälle", das junge Leute sich manchmal wünschten, gebe es nicht – und es sei viel zu teuer.
Für sich haben die Hufnagels mit ihrer Mitbewohnerin eine gute Lösung gefunden. "Die Manda ist es wert, dass man sich um sie kümmert. Sie hat sich auch um unsere Kinder gekümmert", sagt ihre Schwiegertochter Sabine. Aber sie und ihr Mann sind sich auch bewusst, dass es irgendwann eine Grenze geben könnte, an der es nicht mehr gehe zuhause. Das müsse man sich dann auch eingestehen.
Und da blitzt er nochmal auf der trockene Humor, den Mutter und Sohn so gerne pflegen. "Dann wirst du abgeschoben", sagt der Sohn scherzhaft zu seiner Mutter. Und ihre Antwort: "Schau'n mer mal."
Es wohnen doch nur Sohn und Schwiegertochter im Haus.
Auch sollte so eine Wohnungsform die Normalität sein und wäre nicht besonders in der Presse erwähnenswert.