
Im Jubiläumsjahr "1700 Jahre jüdisches Leben in Deutschland" blickte die Redaktion auf die Geschichte der Juden im Landkreis Kitzingen zurück. Gastautor Wolf-Dieter Gutsch aus Wiesentheid hat dazu mehrere Familien-Schicksale zusammengetragen, die wir in loser Folge vorstellten. Zum Abschluss der Serie behandelt er die Geschichte von Klara Reiß aus Segnitz/Marktbreit. Sie ist die einzige bekannte Jüdin, die nach der NS-Zeit in den Landkreis Kitzingen zurückkehrte und blieb.
Zwischen November 1941 und Dezember 1944 wurden aus Unterfranken 2069 Menschen jüdischer Herkunft von den Nazis in die Gettos und Vernichtungslager in den besetzten Gebiete Osteuropas deportiert, um sie dort zu ermorden.
Nur sehr wenige der Deportierten hatten das Glück zu überleben. Einige kehrten nach ihrer Befreiung und dem Ende des Zweiten Weltkriegs in ihre Heimat zurück – aber meist nur vorübergehend, bevor sie Deutschland endgültig verließen und zum Beispiel nach Israel oder in die USA auswanderten.
Nur drei Juden kamen zurück in ihre Heimat
Bisher sind nur drei Fälle aus der Region bekannt, in denen Überlebende wieder dauerhaft an ihren Heimatort zurückkehrten. Neben Klara Reiß aus Marktbreit waren dies der Viehhändler Otto Mannheimer (1899 – 1967) aus Giebelstadt sowie der Viehhändler und Landwirt Ludwig Gutmann (1902 – 1984) aus Schwanfeld. Auch diese beiden überlebten nur dank einer Kette von glücklichen Zufällen die NS-Zeit und den damit einhergehenden Versuch der Nazis, das europäische Judentum vollständig auszulöschen.

Klara Reiß wurde am 19. August 1872 in Segnitz geboren. Sie war eine Tochter des Weinhändlers und Krämers Amson Reiß, der 1839 in Welbhausen bei Uffenheim geboren wurde, 1861 als "Handelscommis" nach Segnitz kam und 1866 die in Segnitz 1842 geborene Fanny Ballin heiratete. Fannys Eltern waren der Metzger und Krämer Mendel Ballin und seine Frau Therese, geborene Schäfer.
Ebenfalls in Segnitz geboren wurden Klaras Geschwister Friederike (Jahrgang 1868) und Bernhard (1870). Im Mai 1876 zog Amson Reiß mit seiner Familie und seiner inzwischen verwitweten Schwiegermutter Therese nach Marktbreit in das Haus Nr. 162 (heute Schlossgasse 2). Dort kam 1876 noch die Tochter Henriette, das letzte Kind der Familie, zur Welt. Amson Reiß sorgte als erfolgreicher Weinhändler für den Lebensunterhalt, so dass er über einen gewissen Wohlstand und ein großes Anwesen in Marktbreit verfügte. Er starb am 24. Oktober 1903, seine Frau Fanny am 16. Dezember 1920. Beide wurden auf dem jüdischen Bezirksfriedhof in Rödelsee begraben.
Bernhard absolvierte vermutlich eine Kaufmannslehre, bevor er im Jahre 1894 nach München übersiedelte, wo er zuletzt als Prokurist tätig war. Am 2. Dezember 1938 kehrte er nach Marktbreit zurück und lebte bei seinen jüngeren Schwestern Klara und Henriette im Elternhaus. Beide hatte er nach dem Tode der Eltern wohl schon lange finanziell unterstützt. Die älteste Schwester, Friederike, war 1886 in die USA ausgewandert und führte ihrem Onkel Joseph Ballin in Chicago und in Dubuque im Bundesstaat Iowa den Haushalt.
Deportation in Getto und Konzentrationslager

Nach dem Tod ihrer Mutter im Jahre 1920 lebten Klara und Henriette Reiß alleine im elterlichen Anwesen in Marktbreit. In den Adressbüchern der Stadt werden sie als "Geschwister Reiß, berufslos" geführt. Später taucht nur noch Klaras Name auf, mit der Bezeichnung "Rentnerin" oder "Privatiere".
Ob ihr Haus vom Pogrom am 10. November 1938 betroffen war, ist nicht bekannt. Allerdings stellten die drei Geschwister schon bald nach der Rückkehr des Bruders, Ende Juli 1939, wegen einer geplanten Auswanderung nach England oder in die USA einen Antrag auf Erteilung eines Reisepasses. Zur Auswanderung, für die offensichtlich Verwandte in den USA die entsprechenden Bürgschaften geleistet hatten, kam es aber nicht mehr.
Bernhard Reiß wurde im Mai 1942 zum "Vertrauensmann für Marktbreit und Obernbreit der Bezirksstelle Bayern der Reichsvereinigung der Juden in Deutschland" ernannt und man stellte für ihn den Antrag auf "Genehmigung zur Benützung öffentlicher Fernsprecher". Dieser Antrag wurde Ende Mai 1942 von der Gestapo mit der Begründung abgelehnt, dass "die Juden aus Marktbreit und Obernbreit in allernächster Zeit nach Würzburg umsiedeln" würden.
Zwangsverkäufe des Eigentums
Und so geschah es auch: Am 5. Juni 1942 wurden Bernhard, Klara und Henriette Reiß von Marktbreit aus in das Jüdische Wohnheim, Bibrastraße 6 in Würzburg, gebracht. Ihr Haus hatten sie wahrscheinlich schon vorher zwangsweise und zu einem geringen Preis verkaufen müssen. Ihre Möbel wurden amtlicherseits auf ihren Wert geschätzt und durch den Bürgermeister verkauft. Der Erlös musste auf ein "beschränkt verfügbares Sicherungskonto beim Bankhaus Karl Mayer in Kitzingen" eingezahlt werden.
Inzwischen waren Bernhard, Klara und Henriette schon am 23. September 1942 von Würzburg in das Getto und Konzentrationslager Theresienstadt, nahe Leitmeritz in Nordböhmen, deportiert worden. Wie ihnen erging es 560 weiteren Juden aus Würzburg, von denen letztlich nur 34 überlebten. Am Tage ihrer Deportation erhielten sie die amtliche Nachricht, dass ihr gesamtes Vermögen wegen der "Wohnsitzverlegung" dem Deutschen Reich zufällt.

Wegen der miserablen Ernährungslage und der entsetzlichen hygienischen Zustände war die Sterblichkeit in Theresienstadt unglaublich hoch. Dort kam Henriette Reiß am 11. November 1942, ihr Bruder Bernhard Reiß am 12. Mai 1943 ums Leben.
Wie durch ein Wunder überlebte Klara Reiß. Ob sie erst im Mai 1945 in Theresienstadt befreit wurde oder vielleicht schon am 5. Februar 1945 – zusammen mit 1200 anderen Häftlingen, darunter die in Altenschönbach geborene Fanny Bach, geb. Reis – in einem Evakuierungszug im Rahmen einer Freikaufaktion in die Schweiz gelangte, ist nicht bekannt.
"Privilegierte Mischehe"
Ab dem 30. Juli 1945 wohnte sie in Würzburg im Mittleren Dallenbergweg 19 bei der Weinhändlersfamilie Max Müller. Müller hatte, wie sein Bruder Richard, der als Rechtsanwalt und Notar im Mittleren Dallenbergweg 14 wohnte, als Jude das "Dritte Reich" überlebt, weil er mit einer Nichtjüdin in "privilegierter Mischehe" verheiratet war.

Am 15. September 1947 kehrte Klara Reiß zurück in ihre Heimatstadt Marktbreit. Sie wohnte bei der Kapitänswitwe Lina Schlegelmilch im Haus Nr. 177 (heute Marktplatz 5) und führte mit ihr einen gemeinsamen Haushalt. Obwohl aus einem orthodoxen jüdischen Elternhaus stammend, hatte sie anscheinend keine Bindung an die traditionelle jüdische Lebensweise. So spielte für sie beispielsweise die Einhaltung des Sabbats und der Speisevorschriften keine wichtige Rolle mehr.
Ihre Anwesenheit in Marktbreit mag für manche ehemaligen Anhänger des Nationalsozialismus – und für sie selbst – nicht immer einfach gewesen sein. Dank ihres zwar resoluten, aber stets offenen und freundlichen Wesens fand sie jedoch ihren Platz in ihrer Heimatstadt, nicht zuletzt dadurch, dass sie nach ihrer Rückkehr für einige Jahre die Lizenz zum Betrieb eines Kinos im Saal des Gasthauses "Zum Löwen" inne hatte.

Anlässlich ihres 80. Geburtstages setzte sich Klara Reiß 1952 zur Ruhe und genoss ihren Lebensabend. Dank der finanziellen Unterstützung durch Verwandte aus den USA hatte sie keine materiellen Sorgen. Am 21. Juli 1969 zog sie von Marktbreit nach Kitzingen in das Frida-von-Soden-Heim für Senioren.
Dort starb sie nur zwei Wochen später am 4. August 1969 im Alter von fast 97 Jahren und wurde auf dem Israelitischen Friedhof in Würzburg begraben. Ein schlichter Grabstein erinnert dort an die letzte Jüdin, die in Marktbreit gelebt hat.
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