Nacht- und Nebelaktion – so lässt sich das Vorgehen der bayerischen Staatsmacht in der Nacht auf Freitag, 19. Mai 1978, in Ermershausen im Landkreis Haßberge beschreiben. Fast 2000 Polizisten riegeln das Dorf im Haßgau ab, umstellen zuerst die Kirche, um zu verhindern, dass Glockengeläut die schlafenden Dorfbewohner alarmiert. Auch die Feuersirene wird blockiert. Dennoch sind innerhalb weniger Minuten die meisten Ermershäuser auf den Beinen, und was sie sehen, macht sie wütend: Aus dem alten Rathaus werden unter Polizeischutz Aktenschränke, Urkunden, Stempel, Tische, Stühle, ja sogar Aschenbecher mitgenommen.
42 Jahre liegt diese Aktion nun zurück. Damals erlangte das nördlichste Dorf im Landkreis Haßberge bundesweite Berühmtheit, wurde fortan das "Rebellendorf" genannt. Die Einwohner wehrten sich gegen die angeordnete Eingliederung in die Gemeinde Maroldsweisach, die durch die vom damaligen bayerischen Innenminister Bruno Merk (CSU) vorangetriebene Gebietsreform festgeschrieben war. Sie verbarrikadierten ihr Rathaus und verhinderten, dass die Dokumente der einstigen Selbstständigkeit nach Maroldsweisach gelangten. Bis das Landratsamt Haßberge die Hilfe der Polizei anforderte und sie in jener Nacht schließlich auch bekam.
Schlagstöcke und Blockaden
Das Rathaus wurde von der Bereitschaftspolizei gestürmt und geräumt. Die Ermershäuser aber gaben in ihrem Kampf um Eigenständigkeit nicht auf und hatten 16 Jahre später doch noch Erfolg: Die bayerische Staatsregierung gab nach, seit dem 1. Januar 1994 ist Ermershausen mit seinen gut 600 Einwohnern wieder eine selbstständige Gemeinde, das "Rebellendorf" Geschichte.
In der Nacht zum 19. Mai 1978 aber herrschten Zustände, die an einen Bürgerkrieg erinnerten. Die Polizei ging mit Schlagstöcken gegen die "Rebellen" vor, einige Frauen erlitten einen Nervenzusammenbruch. In Doppelreihen sperrten die Uniformierten mit weißen Helmen, Schlagstöcken und Schildern den Rathausplatz ab, sahen sich wüsten Beschimpfungen ausgesetzt. Für die Dorfbewohner glich die Polizeiaktion einem feigen Überfall – und gegen den setzten sie sich im Rahmen ihrer Möglichkeiten zur Wehr.
Zufahrtsstraßen wurden mit Baumstämmen und einem Auto blockiert. Dieses Fahrzeug, ein Übungsauto der Ermershäuser Feuerwehr, fing sogar Feuer und brannte vollständig aus. Zahlreiche Bürger, die sich vor den Polizeifahrzeugen auf die Straße legten, mussten von Beamten weggetragen werden. Sie ließen aber keinen Zweifel daran, dass sie auch künftig, "mit passiver Gewalt" alle Amtshandlungen der Maroldsweisacher Gemeindeverwaltung und des Landratsamtes verhindern würden.
Und so kam es dann auch: Die Ermershäuser boykottierten sämtliche Wahlen, reichten Petitionen ein, klagten, beschwerten sich und demonstrierten, wo immer es möglich war. Bei Bundes- und Landtagswahlen wurden Wahlbenachrichtigungskarten in ein vor dem Rathaus aufgestelltes Toilettenhäuschen geworfen. Bei der Kommunalwahl 1984 banden die Ermershäuser ihre Karten an Luftballons und ließen sie in die nahe DDR treiben.
"Ich erinnere mich noch sehr genau", sagte der 2013 verstorbene damalige Ermershäuser Bürgermeister Adolf Höhn auch 30 Jahre nach dem Beginn des "Freiheitskampfes". Höhn hatte bereits geschlafen und sei zwischen drei und vier Uhr von Rufen geweckt worden. "Auf der Straße schrie jemand: ,Hilfe, Hilfe, wir werden überfallen.' Ich schaute aus dem Fenster und sah überall Uniformierte. Mir war klar, jetzt wird es ernst."
Viel Zeit hatten Höhn und seine "Rebellen" nicht, nach nur 20 Minuten war alles vorbei, die Akten aus dem Rathaus verschwunden. Von nun an formierte sich der Protest im oberen Haßgau. Noch am gleichen Tag zogen 30 bis 40 Ermershäuser mit Kinderwagen und Handgepäck an die Grenze zur damaligen DDR; groteskerweise, weil sie in einem "Polizeistaat" nicht mehr leben wollten.
In der DDR rannten sie damit offensichtlich offenen Türen ein. Die Staatsmacht in Ostdeutschland war über die Situation nur wenige Meter hinter dem Eisernen Vorhang bestens informiert und hätte die "Westdeutschen" aus Propaganda-Gründen sogar über die Grenze gelassen. Die Grenztore standen auf und aus den Lautsprechern tönte Marschmusik. Adolf Höhn selbst soll die Protestler allerdings ins Dorf zurückbeordert haben.
Doch ging es wohl nicht nur um die politische Eigenständigkeit, die Ermershausen abgenommen werden sollte. Es ging auch um den Gemeindewald und damit um eine Menge Geld. "Den Wald wollen uns die Maroldsweisacher nehmen", war man in Ermershausen überzeugt. Man glaubte, dass es Maroldsweisach hauptsächlich um die stattlichen Einnahmen in der Nachbargemeinde ging.
16 Jahre dauerte der Widerstand der Rebellen aus dem Haßgau, so lange wurden sämtliche Versuche, wieder eigenständig zu werden, in München abgeblockt. Im Januar 1989 befasste sich der bayerische Landtag noch einmal mit Härtefällen der bayerischen Gebietsreform, so auch mit dem Dorf in den Haßbergen. Die Ausgliederung Ermershausens aus der Marktgemeinde Maroldsweisach wurde damals aber abgelehnt, das Dorf hätte zu wenig Einwohner, so die Begründung aus dem Maximilianeum. Erst 1994 erlangte Ermershausen seine Eigenständigkeit zurück. Seitdem erinnern die "Freiheitsglocke" vor dem Rathaus und im Gemeindewappen sowie ein Gedenkstein an den Freiheitskampf der Rebellen aus dem Haßgau.
Protest von innen heraus
Ihre wieder gewonnene Unabhängigkeit verdankten die Ermershäuser vor allem ihrer Hartnäckigkeit und einem Trick: Sie gründeten einen eigenen CSU-Ortsverband, der mit 274 Mitgliedern zum damals größten im Landkreis Haßberge wurde. Dadurch wurde der Druck auf die Politik, vor allem auf die CSU-geführte Staatsregierung in München, erhöht. Birkenfeld und Dippach allerdings, die vor der Gebietsreform zu Ermershausen gehörten, blieben bei der Marktgemeinde Maroldsweisach.
Adolf Höhn stand die ganze Zeit über an der Spitze des Widerstands. Der Metzgermeister, von 1972 bis 1978 bereits Bürgermeister, wurde bei der Wahl am 30. Januar 1994 ohne Gegenkandidat erneut ins Amt gewählt – mit 89 Prozent. Höhn übte das Amt bis 2002 aus.