Wer an einem der ersten milden Frühlingstage dieses Jahres Nikolaus Knauf zum Gespräch gegenübersitzt, landet unweigerlich in der Vergangenheit. Das liegt nicht nur am exklusiven Ambiente, in dem Knauf zu Hause ist, einem weiträumigen Schloss inmitten der 1250-Einwohner-Gemeinde Markt Einersheim (Lkr. Kitzingen); es hat auch mit dem Faible des Hausherrn zu tun. Bündelweise Biografien hat Knauf verschlungen, gerade liest er die des Prinzen Eugen, eines der bedeutendsten Feldherren des Habsburgerreichs.
Knauf kann sich verlieren in der Geschichte – so sehr, dass man einen Moment lang vergisst, wen man da eigentlich vor sich hat. Nicht den Geschichtsprofessor Nikolaus Knauf, der er nach eigenen Worten gerne geworden wäre, wenn, ja wenn nicht die Familienräson anderes von ihm verlangt hätte. Längst ist der Patriarch mit dem schlohweißen Haar selbst eine Person der Zeitgeschichte. An diesem Donnerstag, 8. April, wird er 85, und die Frage ist: Wie sähe eine Biografie über ihn aus? Wo ist der rote Faden, der sich durch ein so langes Leben zieht? Knauf rückt sich in seinem Stuhl zurecht und sagt: "Ich habe immer positiv gedacht."
Nikolaus Knauf gehört zu den erfolgreichsten und wohlhabendsten Familienunternehmern dieses Landes, sein Aufstieg ist eine echte Erfolgsgeschichte, die auf Weitsicht, Wachstum und Wertigkeit beruht. Gemeinsam mit seinem Vetter Baldwin Knauf (81) hat er aus den Westdeutschen Gipswerken ein weltweit operierendes Baustoff-Imperium geformt, einen Global Player und Weltmarktführer. Der aus dem beschaulichen Iphofen heraus gesteuerte Konzern ist heute der größte Gipsveredler der Erde mit 35 000 Mitarbeitern auf allen Kontinenten und 10,5 Milliarden Euro Jahresumsatz. Nachdem die beiden Vettern 1969 von ihren Vätern die Geschäfte übernommen hatten, folgten sie einem Selbstverständnis, das Nikolaus Knauf so beschreibt: "Man sollte sich mit den Besten vergleichen und ihnen nachstreben."
Ein drahtiger Unternehmer mit Bewunderung für Bismarck
Wer Nikolaus Knauf heute beobachtet, 13 Jahre nach seinem selbst gewählten Rückzug aus der Geschäftsführung, sieht noch immer einen drahtigen Unternehmer mit äußerst wachem Geist und blitzenden Augen. Einen Mann von nahezu preußischer Disziplin, der das diplomatische Können Bismarcks rühmt, obwohl er selbst doch eher lothringische Wurzeln hat und sich dem Savoir-vivre näher fühlt. Schlendrian und Schludrigkeit duldet er nicht, das hat er auch seine Mitarbeiter spüren lassen. Er verlangte viel, dafür garantierte er ihnen über all die Jahre sichere Arbeitsplätze und überdurchschnittliche Löhne. Und er hat Prinzipien. Zu ihnen gehört, am Telefon nicht über vertrauliche Dinge zu reden.
Also hat er zum Gespräch in sein Schloss geladen, den einstigen Adelssitz der Grafen von Limpurg-Speckfeld und seit den 1960er-Jahren sein Zuhause. Der Hausherr öffnet selbst die Tür, und der Besucher tritt ein in eine Welt der barocken Noblesse. Hohe Räume, gediegener Glanz, das großzügige Foyer österlich dekoriert. Knauf bittet in ein sonnenlichtgeflutetes Zimmer mit Blick auf den Marktplatz, klassisches Eichenparkett, Louis-XIV-Möbel, an einer Wand ein großer Seidenteppich, an den anderen Wänden alte Gemälde und ein Kronleuchter über der gedeckten Kaffeetafel.
Wachstum gehört bei Knauf zum kategorischen Imperativ
Jedes Bauwerk beeinflusst die Menschen, die es bewohnen. Architektur kann beengen und befreien, Knauf hat sie zu Großem angestiftet. Zum Aufbruch in die Welt. Expansion gehörte immer zu den kategorischen Imperativen des Unternehmens – bis heute. Fragt man Knauf, was ihn angetrieben und bewegt hat, sagt er: "Positives Denken. Das gibt Ihnen Kraft und gibt den Anderen Kraft. Sie können nicht vernünftig handeln, wenn Sie Angst haben."
Den Mut hat ihm sein Großvater vorgelebt. "Er war völlig angstfrei", sagt Knauf. "Im Krieg musste er immer gebeten werden, in den Luftschutzkeller zu gehen." In den Kriegswirren war die Familie vom Saarland nach Unterfranken geflüchtet und im Iphöfer Weingut Wirsching untergekommen. Als kleiner Junge sah Knauf die Bombengeschwader Richtung Würzburg fliegen; er hörte den Knall, als auf dem Iphöfer Marktplatz ein Munitionswagen explodierte. Aber mit dem Krieg hatte er nicht viel zu tun.
Als er mit Anfang 30 im Unternehmen ganz nach vorne rückte, war von einem Global Player noch nichts zu ahnen. Die Wirtschaftswunderjahre gingen langsam zu Ende, Knauf suchte nach neuen Märkten außerhalb Deutschlands. Er fand sie erst in Europa, später in den USA, und mit Ende des Kalten Krieges begann der Aufbruch nach Russland und China. Heute macht der Konzern 90 Prozent seines Umsatzes im Ausland. Von Beginn an teilten sich Nikolaus und Baldwin Knauf ein Büro, saßen sich an einem massiven Holzschreibtisch gegenüber. Führung auf Augenhöhe.
Bei großen Entscheidungen mussten sie sich einig sein; waren sie es nicht, ließen sie die Finger von dem Geschäft. Das hat funktioniert. Bis heute ist Nikolaus Knauf überzeugt von diesem pragmatischen Vieraugenprinzip. "Wenn Sie ehrlich Ihrer Arbeit nachgehen, können Sie das bei offener Tür tun", sagt er. "Ich halte nichts von Geheimniskrämerei." Vom operativen Geschäft haben er und sein Vetter sich längst verabschiedet. Aber auf die Frage, wie sehr er noch immer Unternehmer sei, erklärt Knauf: "Seien Sie versichert, dass hier keine Million rausgeht, ohne dass ich es weiß."
Der Einsatz in der Politik ist ein Signal an die Heimat
Noch länger als an den Schaltstellen des Unternehmens sitzt er für die CSU im Gemeinderat von Markt Einersheim (seit 1972), der ihn längst zum Ehrenbürger ernannt hat. Seit 40 Jahren gehört er auch dem Kitzinger Kreistag an. Es ist seine Art, der Region, die für ihn Heimat geworden ist, auf sehr unprätentiöse Weise etwas zurückgegeben. Bei allen Privilegien ist Knauf ein Mann des Volkes geblieben, der sich gerne im örtlichen Gasthaus zeigt und die Ortsburschen zur Kirchweih in den Schlosshof einlädt. Von Zeit zu Zeit überrascht er die Gemeinde mit einer großzügigen, oft zweckgebundenen Spende.
Das Unternehmen ist weiter in Familienbesitz, mittlerweile in dritter Generation, und das soll auch so bleiben. Knauf schätzt in diesem Konstrukt die kurzen Wege und schnellen Entscheidungen. "Wenn wir wollen, können wir binnen 24 Stunden jede Entscheidung herbeiführen." Knauf gießt sich noch Kaffee nach, das Mittagsläuten dringt durch die geschlossenen Fenster. Hier sitzt ein Mann, der für sein aufbrausendes Temperament berühmt und berüchtigt war und der – auch in einer Pandemie – den Anschein erweckt, als ruhe er in sich.
Der Gedanke, noch etwas Neues anzufangen, belustigt Knauf
Noch immer geht er regelmäßig in die Firma. Der Gedanke, er könne im Alter noch mal etwas Spannendes anfangen, belustigt ihn. "Absurd" sei das; das Unternehmen, das er mit aufgebaut hat, war und ist sein Leben. Und doch: "Jeden Tag, den man hat, kann man etwas Neues lernen." Knauf nutzt die freie Zeit, um tief in die Historie einzutauchen, in die Epoche von Kaisern und Königen, von Rittern und Römern. "Ich hatte in der Oberschule einen Lehrer, der in einer unglaublichen Art die Geschichte der Römer und Griechen vermitteln konnte", erzählt er. Jetzt findet man ihn noch öfter in seiner hauseigenen Bibliothek.
Nicht nur literarisch ist er viel in der Weltgeschichte umhergereist. In "zig Ländern" sei er gewesen, immer beruflich, gesehen habe er wenig. "Meine Frau meint immer, wir sind viel zu wenig auf Reisen", sagt Nikolaus Knauf. Sicher ist, dass er an seinem Geburtstag unterwegs sein werde. Der Trubel zu seinem 80. hat ihm gereicht – er lässt sich ungern feiern. Aber er ahnt, dass seine drei Kinder und sechs Enkel Mittel und Wege finden werden, um ihm auf die Spur zu kommen.