
Das 1920 vom Reichstag verabschiedete Betriebsrätegesetz mache "Industrieuntertanen zu Industriebürgern", sagte der liberaldemokratische Gewerkschafter Anton Erkelenz vor 100 Jahren. Erstmals ermöglichte es Arbeitnehmern, an der Ausgestaltung ihrer Arbeitsbedingungen und ihres Unternehmens teilzuhaben.
Das Recht mussten sich die Befürworter damals blutig erstreiten: Während des Gesetzgebungsverfahrens war es zu blutigen Auseinandersetzungen gekommen, 42 Menschen starben bei einer Demonstration vor dem Reichstagsgebäude durch Schüsse der Sicherheitspolizei.
Für Norbert Lenhard, Vorsitzender des Gesamt- und Konzernbetriebsrats beim Auto- und Industriezulieferer Schaeffler in Schweinfurt, wurde mit dem Gesetz von 1920 "der Markstein der Betriebsverfassung gelegt, der Demokratie im Betrieb begründet hat".
- Lesen Sie auch: Wo Betriebsräte in Mainfranken Erfolge hatten
Die Frage damals: Wie viele Toiletten sind nötig?
Betriebsräte gab es schon 1919, ein Jahr vor der Verabschiedung des Gesetzes, in den Schweinfurter Metallbetrieben FAG-Kugelfischer (heute Schaeffler-Industriesparte) und Fichtel & Sachs (heute ZF). "Die betriebliche Praxis 1919 war sogar besser als das Gesetz", sagt Lenhard. "Der Gedanke war: Wir gestalten Demokratie im Betrieb. Man wollte Mitbestimmung an der Steuerung des Unternehmens." Das habe sich 1920 im Gesetz selbst nicht wiedergefunden.

Betriebsräte konnten demnach nicht mitentscheiden, ob es etwa Entlassungen geben muss, sondern nur, wer entlassen wird. Die Aufgaben in den Anfangsjahren, nach dem Ersten Weltkrieg also, bestanden vor allem in Mangelverwaltung: Versorgung mit Essen oder der Fabrik mit Betriebsmitteln wie Kohle. Es ging darum, wie viele "Aborts "(Toiletten) für die Beschäftigten nötig sind, so Lenhard, "Hygiene spielte eine wichtige Rolle."
"Es brauchte einen Neuanfang"
In der Nazizeit wurden die Betriebsräte entmachtet, durch "Vertrauensräte" ersetzt, die nur noch die so genannten "Betriebsführer" beraten durften, bis auch die Vertrauensräte 1935 abgeschafft wurden. Nach 1945 hatten die ersten Betriebsräte der Nachkriegszeit erneut erst einmal Mangelversorgung zu organisieren und Verteilungsfragen standen im Mittelpunkt, so Lenhard. "Ein großer Durchbruch war 1972. Mit Willy Brandts Bekenntnis ,Mehr Demokratie wagen' wurden starke Beteiligungsrechte durchgesetzt – Mitbestimmung in Personalfragen", sagt der Schaeffler-Betriebsratsvorsitzende. "Jede Neufassung war ein Schritt nach vorn."
Eine wichtige Zäsur und Neuausrichtung der Betriebsratsarbeit hat Norbert Lenhard selbst erlebt: Den "großen Zusammenbruch" von FAG in den Krisenjahren 1992/93: "Kugelfischer war de facto pleite." Spätestens damals sei klar gewesen, dass mit dem "Herr-im-Haus-Standpunkt" eines Patriarchen "die Zukunft nicht zu gestalten war".
"Insofern kam uns die Krise zupass", so Lenhard. "Es brauchte einen Neuanfang." Nun mischten sich Produktionsbeschäftigte in Arbeitsabläufe ein, machten Verbesserungsvorschläge. Der Betriebsrat beschäftigte sich mit wirtschaftlichen Fragen.
Blick für Chancen und Risiken
"Wir mussten den Blick für Chancen und Risiken schärfen, um Veränderungsprozesse zu beeinflussen", erläutert Lenhard. "Wie kann man Arbeitsplätze und Einkommen sichern und die Firma voranbringen?" Arbeitnehmervertreter müssten eingreifen können, bevor Entscheidungen fallen. "Wenn wir um Interessenausgleich verhandeln müssen, ist es schon zu spät, dann geht es nicht mehr darum ob, sondern wie Personal abgebaut wird."
Ein Beispiel: Schaeffler wollte sein Lager- und Verteilzentrum auslagern. "1999 ging's los", sagt Lenhard, "in verschiedenen Etappen konnten wir es immer wieder verhindern". Bei Übernahme der Abteilung durch einen Logistiker hätten den Beschäftigten enorme Einkommensverluste gedroht. Am Ende kam das Zentrum nach Kitzingen, "aber zu Tarifbedingungen der Metallindustrie mit geringen Abweichungen".
Was ein DGB-Mann meint
Alles in allem stellt Frank Firsching aus Schweinfurt der Mitbestimmung in Mainfranken ein gutes Zeugnis aus. Der Unterfranken-Geschäftsführer im Deutschen Gewerkschaftsbund (DGB) sieht die Betriebsräte in der Region in einer starken Position. "In wenigen Ausnahmefällen verhindern Unternehmen die Gründung von Betriebsratseinheiten durch Einschüchterung oder aggressive Maßnahmen" gegen die Belegschaft, die einen Betriebsrat gründen wollen, so Firsching gegenüber dieser Redaktion. "In diesen zum Teil öffentlich bekannten Fällen unterstützen wir die Betroffenen Kolleginnen und Kollegen zum Beispiel durch einen Rechtsbeistand."
Zukunft mit vielen offenen Fragen
Und was sind heute die drängendsten Aufgaben der Betriebsräte? "Die Mobilitäts- und Klimawende und die Digitalisierung wird die Metallindustrie völlig über den Haufen werfen", prophezeit Lenhard. Die Frage werde sein, wie Milliarden einzusetzen sind, um zukunftsfähige Produkte und Arbeitsplätze zu gestalten. "Eine Riesenherausforderung auf allen Ebenen."
Dabei sei, was kommen kann, noch ziemlich abstrakt. "Wir wissen noch nicht genau, wie die Arbeitsplätze von morgen aussehen." Arbeitsgeräte des Facharbeiters der Zukunft könnten Tablett und Smartphone sein. Klar sei nur: "Betriebsräte und Gewerkschaften sind gefordert, diese Zukunft aktiv mitzugestalten."