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PARIS
Ein Jahr nach dem Terror: Weiterleben in Paris
Ein Jahr danach: Am 13. November 2015 erschütterte der Terror die französische Hauptstadt. Schon wieder. 130 Menschen starben, Hunderte wurden verletzt. Wie gehen Opfer und Hinterbliebene um mit dem Leid?
Ein Jahr nach den Pariser Terroranschlägen       -  Kriminaltechniker suchten nach dem Angriff auf das „Bataclan“ auf der Terrasse des Konzertsaales nach Spuren.
Foto: Laurent Dubrule, dpa | Kriminaltechniker suchten nach dem Angriff auf das „Bataclan“ auf der Terrasse des Konzertsaales nach Spuren.
Birgit Holzer
 |  aktualisiert: 07.04.2020 11:01 Uhr

Der 13. November 2015 ist Aurélie Silvestre gut in Erinnerung. „Es war ein Freitag, das Leben war schön.“ Am Morgen hat die junge Französin ihrem Freund Matthieu in einer SMS geschrieben, dass sie ihn liebe und er ein toller Vater für ihren gemeinsamen dreijährigen Sohn Gary sei. Sie ist im fünften Monat schwanger, erwartet ein Mädchen. Am Abend bricht der 38-jährige Geografiedozent zur Konzerthalle „Bataclan“ auf, wo die US-Band „Eagles of Death Metal“ spielt. Um 21.46 Uhr schickt Matthieu eine SMS: „Das ist Rock!“ Sein letztes Lebenszeichen.

Um diese Zeit sind bereits zwei Bomben vor dem Fußballstadion Stade de France in Saint-Denis nördlich von Paris explodiert. Eine dritte sollte noch folgen.

Drei Terroristen, deren Versuche gescheitert waren, während eines Freundschaftsspiels zwischen der deutschen und der französischen Nationalelf ins Innere des Stadions zu kommen, haben sich dort in die Luft gesprengt. Die Gäste, unter denen sich auch Bundesaußenminister Frank-Walter Steinmeier und Präsident François Hollande befinden, und sogar die Fernsehzuschauer hören die Detonationen. Zeitgleich feuern drei Männer im Zentrum von Paris wahllos auf die Menschen, die an diesem milden Herbstabend auf den Terrassen von Bars und Restaurants in der Nähe des Platzes der Republik im 11. Arrondissement (Bezirk) sitzen.

Hier befindet sich auch das „Bataclan“. Ein drittes dreiköpfiges Mord-Kommando schießt sich gegen Viertel vor zehn mit Kalaschnikow-Sturmgewehren den Weg in den Konzertsaal frei, richtet dort ein Blutbad an. Zeitweise nehmen die Terroristen einige Menschen als Geiseln – bis die Polizei das Gebäude stürmt und einen der Männer tötet. Die beiden anderen lösen ihre Sprengstoffgürtel aus und sterben.

In Paris herrschen in dieser Nacht des 13. November chaotische Zustände. Kranken- und Polizeiwagen rasen mit Blaulicht durch die Stadt, Menschen in Panik versuchen, sich in Sicherheit zu bringen. Präsident Hollande und Premierminister Manuel Valls, der selbst im 11. Arrondissement wohnt, eilen herbei, sprechen schnell vom „Krieg“ gegen den Terrorismus, von absoluter Härte gegen jene, die Frankreich so tief getroffen haben. Sie werden in der Folge den Ausnahmezustand verhängen, der immer noch gilt, die Polizei- und Sicherheitskräfte aufstocken, die Bombardierungen gegen Stellungen des sogenannten Islamischen Staates in Syrien und dem Irak verstärken. Der „Krieg gegen den Terror“ bekommt Priorität, was auch im Alltag spürbar wird: Manche Massenveranstaltungen wie Open-Air-Kinos oder der große Freiluft-Buchflohmarkt in Lille müssen ausfallen. Aus Furcht vor weiteren Attacken verzichtet man auch auf eine zentrale Gedenkveranstaltung wie nach den Anschlägen auf das Satiremagazin „Charlie Hebdo“ und einen jüdischen Supermarkt im Januar 2015.

Die genaue Bilanz der Horror-Nacht wird erst später bekannt: 130 Menschen starben, davon 90 im „Bataclan“, mehr als 350 wurden teilweise schwer verletzt. Und eine ganze Nation ist traumatisiert durch die brutale Gewalt eines Terror-Netzwerks mit Verbindungen zum IS, das seine Taten in Belgien geplant hatte. Einige Tage später werden einer der mutmaßlichen Rädelsführer und zwei Komplizen in ihrem Versteck in Saint-Denis bei einem Sturmangriff der Polizei getötet.

Der 14. November 2015 ist ein trüber Tag. Um den Platz der Republik sind kaum Passanten unterwegs – aber Fernsehteams und Journalisten aus der ganzen Welt, die versuchen, in Bilder und Worte zu fassen, was Paris zugestoßen ist. Die Stadt der Liebe und der Lichter ist zur Stadt des Terrors geworden.

Weil sie nichts von Matthieu gehört hat, ruft Aurélie Silvestre alle Krankenhäuser von Paris an. Zunächst hatte es geheißen, er sei am Leben: Sie und Sohn Gary sollten auf weitere Nachrichten warten. Eine Fehlinformation. „Irgendwann verstanden wir, dass es doch etwas komplizierter war“, sagt die junge Frau heute und versucht ein Lächeln. Die 35-Jährige kann es sich „nicht leisten, in Trauer zu versinken“: Gary und Thelma, ihre inzwischen geborene Tochter, brauchen sie. Das vergangene Jahr sei für sie zwar „eine Aufeinanderfolge von 14. November“ gewesen, aber zugleich jeder Tag ein Sieg über den vorherigen. Einmal, so erzählt sie, sah sie im Fernsehen einen Beitrag, in dem es um ein Opfer ging: „Er hatte ein dreijähriges Kind und sollte im Frühjahr eine kleine Tochter bekommen.“ Sie habe gedacht: „Mein Gott, seine arme Frau!“ Und dann erst realisiert: Diese Frau war sie selbst.

Wie macht man also weiter nach einem Freitag, dem 13., der jede Leichtigkeit vertrieben hat? Den Alltag einer „amputierten Familie“ beschreibt Aurélie Silvestre im Buch „Unsere 14. November“ („Nos 14 novembre“), das nun erschienen ist. Es reiht sich ein in mehrere Werke, mit denen Opfer oder Hinterbliebene schreibend versuchen, den Schmerz zu verarbeiten. Sie werden gelesen, weil ihn auch Franzosen empfinden, die selbst niemanden verloren haben. Sie fühlen sich betroffen vom Comic „Mein Bataclan“, in dem ein 59-jähriger Grafiker sein Erleben der Mordnacht in der Konzerthalle schildert. Oder von dem Buch „Ein schönes Team“ („Une belle Équipe“) von Grégory Reibenberg, des Betreibers der Bar „La Belle Équipe“, vor der 19 Menschen getötet wurden, darunter seine Frau. Andere Bücher befassen sich mit einer minutiösen Rekonstruktion der Geschehnisse oder dem „Kriegszustand in Paris“, den der Chef-Mediziner der Elite-Einheit Raid beschreibt.

Ein Jahr nach den Anschlägen stehen die Opfer und Angehörigen, die sich teilweise in Organisationen zusammengetan haben, stärker im Mittelpunkt als die Terroristen. Der einzige Überlebende der Pariser Attentäter, Salah Abdeslam, wurde im März in Brüssel gefasst – kurz vor den dortigen Anschlägen durch dasselbe Netzwerk. Nun sitzt er in einem Gefängnis bei Paris und schweigt beharrlich, um gegen seine Haftbedingungen, vor allem die permanente Video-Überwachung, zu protestieren. Wie seine getöteten Mittäter, darunter sein Bruder Brahim, war er ein im Leben gescheiterter Kleinkrimineller, der sich sehr schnell vom ausschweifend Feiernden zum fanatisierten Islamisten entwickelt hatte. Noch laufen die Ermittlungen, gerade wurde der 32-jährige Belgo-Marokkaner Oussama Atar als mutmaßlicher Drahtzieher von Syrien aus identifiziert.

Doch viele der Hinterbliebenen halten sich gar nicht länger mit jenen auf, die verantwortlich für ihr Leid sind. „Ihr werdet meinen Hass nicht kriegen“, mit diesen Zeilen bewegte der Journalist Antoine Leiris, dessen Frau Hélene im „Bataclan“ starb, das Land. Auch er hat inzwischen ein Buch geschrieben, in dem er den Alltag mit dem gemeinsamen Sohn Malvin schildert. Es wurde ein Bestseller, sein Plädoyer für die Liebe und die „Notwendigkeit, zu leben“, während die Welt weiter vom Terror erschüttert wird – Brüssel, Orlando, Nizza, Istanbul. Gegen den Hass habe er nur eine Kerze, schreibt er. „An dem Tag, wo wir keine Kerzen mehr anzünden, werden wir wie sie geworden sein.“

Kerzen werden auch am Sonntag, dem 13. November, zum Gedenken brennen. Vor den Tatorten in Saint-Denis – wo ein Mann ermordet wurde – und Paris werden mit Bürgermeisterin Anne Hidalgo und Präsident Hollande in einer kurzen Zeremonie Blumen niedergelegt, die Namen der Opfer verlesen und Gedenktafeln enthüllt. Hinterbliebenen-Vereine organisieren weitere Aktionen wie ein Gospel-Konzert, und auf dem Kanal schwimmende Laternen. Am Vorabend öffnet nach umfassenden Renovierungsarbeiten das „Bataclan“ wieder mit Sting auf der Bühne.

In den Folgewochen spielen Pete Doherty, Marianne Faithful und Youssou Ndour – auch hier sollen wieder rockige Töne erklingen und Menschen sich amüsieren.

Das gilt auch in den betroffenen Bars und Cafés, die längst wieder geöffnet haben. Erst bei genauem Hinsehen fällt im Restaurant „Casa Nostra“ das Blatt an der Wand mit den Worten „Peace, Love, Freedom, together“ auf. Auch im Café „La Bonne Biere“ herrscht normaler Betrieb und nur zurückhaltend möchte Betreiberin Audrey Bily über den 13. November sprechen. Das Café, das drei Wochen nach den Anschlägen mit derselben 17-köpfigen Belegschaft wieder aufmachte, wolle in erster Linie ein „Ort des Austauschs“ bleiben. Ein Ort des Lebens, der Freude.

Weiterleben – diese Devise treibt auch Aurélie Silvestre an. „All das hätte mich niederschmettern können – aber nein. Meinen Kindern geht es gut, mir geht es gut. Mein Alltag ist nicht einfach, aber ich weiß, dass meine Fähigkeit zu lieben, intakt ist.

“ Denn ein Versprechen hat sie Matthieu gegeben: „Dass wir glücklich sind“ – auch an jedem Tag, der auf den 13. November 2015 folgt.

 
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