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PARIS
„Sie wollten das Glück töten“
Terror: Die Täter haben sich wohl bewusst das quirligste Viertel von Paris ausgesucht. Drei der Attentäter wollten vor laufenden Kameras ein Blutbad im Fußballstadion anrichten. Bei den Anschlägen wurde auch 28-jähriger Mann aus München getötet.
FRANCE-UNREST-ATTACK       -  Ein vergnüglicher Abend endete in abgrundtiefem Entsetzen: Überlebende Besucher wurden nach dem Massaker in der Konzerthalle Bataclan in Paris von Rettungskräften versorgt.
Foto: KENZO TRIBOUILLARD, afp | Ein vergnüglicher Abend endete in abgrundtiefem Entsetzen: Überlebende Besucher wurden nach dem Massaker in der Konzerthalle Bataclan in Paris von Rettungskräften versorgt.
Birgit Holzer
 |  aktualisiert: 25.11.2015 03:47 Uhr

Die Einladung zum Konzert der US-Band Eagles of Death Metal war das Geschenk eines Freundes, mit dem Vincent einen fröhlichen Abend verbringen wollte. Doch als der junge Architekt am frühen Freitagabend mit seinem Motorrad losfuhr zur Konzerthalle Bataclan im Nordosten von Paris, konnte er nicht wissen, dass er statt Ausgelassenheit einen Exzess der Gewalt erleben würde. Dass es sein letzter Abend werden sollte. Denn in die rockigen Töne mischten sich nach rund einer Stunde Schüsse, dann Schreie. „Erst dachten wir, der Lärm gehört irgendwie zur Show. Aber wir haben schnell verstanden, dass das nicht so war“, sollte einer der Besucher später erzählen, der überlebt hat.

Anders als Vincent, der zu den Menschen gehört, die am Freitag im Bataclan ihr Leben verloren haben, ermordet von wahllos um sich schießenden Terroristen. Er hinterlässt eine Frau und zwei kleine Töchter. Seine Angehörigen und Freunde sind erschüttert. Fassungslos. „Es macht keinen Sinn. Er ist gestorben für nichts, für den Wahn von ein paar Extremisten“, sagt ein Freund. „Es ist so bitter.“ Die Opferbilanz der insgesamt sechs zeitgleich stattfindenden Anschläge hat sich auf mindestens 129 Tote – darunter ein Deutscher – und rund 350 Verletzte erhöht.

Der getötete Deutsche stammt aus München. Der 28-Jährige habe seit längerem in der französischen Hauptstadt gelebt, teilte Andreas Müller-Cyran, Leiter des Kriseninterventionsteams München, am Sonntag mit. Der Mann sei bei einem Café getötet worden. Vier Angehörige seien auf dem Weg nach Paris. Ein Mitarbeiter des Kriseninterventionsteams begleite sie.

Aber auch wer keinen von ihnen persönlich kennt, empfindet nach der Horror-Nacht vom Freitag hilflose, wütende Fassungslosigkeit darüber, dass Paris zehn Monate nach den Anschlägen auf das Satiremagazin „Charlie Hebdo“ und einen jüdischen Supermarkt mit insgesamt 17 Todesopfern erneut Zielscheibe islamistischer Terroristen geworden ist. Doch während die Menschen damals – getrieben von einem enormen Bedürfnis, Solidarität und Zusammenhalten auszudrücken – hinausströmten und sich zu Tausenden auf dem Platz der Republik versammelten, bleiben diesmal viele zu Hause. Die Straßen wirken ungewöhnlich leer und ruhig, die Gesichter der Menschen sind ernst und bedrückt. Wo sonst oft ein Straßenmusiker Akkordeon spielt, herrscht Stille. Museen, Kinos, Straßenmärkte und große Kaufhäuser blieben am Wochenende geschlossen, während insgesamt 3000 zusätzliche Sicherheitskräfte mobilisiert wurden.

Alle Großveranstaltungen sind bis Donnerstag abgesagt. Paris erscheint wie gelähmt.

Für Umtriebigkeit sorgen lediglich die Journalisten. Hinter den Absperrungen der Polizei vor den Tatorten, den Cafés, Restaurants und der Konzerthalle Bataclan, haben sich Dutzende Kamerateams aufgestellt. Reporter streichen auf der Suche nach Augenzeugenberichten durch das Viertel. Aber nicht alle Passanten können oder wollen sich äußern. Wie auch Worte finden? Vor den Absperrungen legen Menschen Blumen ab, stellen Kerzen auf oder Schilder, auf denen steht: „Wir haben keine Angst.“ Oder: „Je suis Paris“ („Ich bin Paris“), angelehnt an das Motto nach den Januar-Attentaten „Je suis Charlie“.

Dass nun die Massen nicht auf die Straße gehen, entspricht der Empfehlung der Behörden während dieses dreitägigen Ausnahmezustands, den Präsident François Hollande ausgerufen hat. Ein Gefühl der Angst schwebt über der Stadt.

Sie suche einen Spielplatz in der Nähe, sagt eine junge Frau mit Kleinkind auf dem Arm, die am Samstagabend im ruhigen Süden von Paris unterwegs ist, unweit des – für Touristen gesperrten – Eiffelturms, aber mehrere Kilometer von den Tatorten entfernt. Am dortigen Marsfeld gibt es zwar Wippen und Sandkästen. „Aber dorthin möchte ich nicht gehen nach allem, was passiert ist.“

Noch immer erscheint die Lage unübersichtlich, aber Staatsanwalt François Molins hat klargemacht, dass die Terroraktionen, die zeitgleich an sechs verschiedenen Orten ausbrachen, professionell geplant und auf drei Gruppen aufgeteilt waren. Verhindern ließen sie sich trotz all der Sicherheitsmaßnahmen nicht, die seit Januar in Kraft sind, wie der verstärkten Überwachung und Polizeipräsenz, den neuen Anti-Terror-Gesetzen, die den Geheimdiensten weitreichende Freiräume geben.

Die Schockwirkung hat sich auch deshalb potenziert, weil es sich nicht um gezielt ausgewählte „Feinde“ handelte, um Karikaturisten und Juden als Symbole der Meinungsfreiheit und Vertreter einer Religion, die die Islamisten bekämpfen. Sondern um eine Anschlagsserie, die maximalen Schaden anrichten wollte. So gut wie jeder hätte getroffen und genau wie der junge Familienvater Vincent zum tragischen Zufallsopfer werden können. Weil sich die Attacken gegen einen Lebensstil richteten – gegen Menschen, die in Bars und Restaurants saßen, die unbeschwert feiern, das Leben genießen wollten. Paris, diese leuchtende Stadt der Liebe und der Freude, wurde in einer Nacht zur Stadt der Trauer und des Schmerzes. „Der Islamismus wollte das Glück töten“, schreibt die Zeitung Libération. Auch Bundeskanzlerin Angela Merkel hat in einer ersten Reaktion, in der sie Frankreich ihr Mitgefühl ausdrückte, gesagt, die Opfer „wollten das Leben freier Menschen leben, in einer Stadt, die das Leben feiert“. Sie seien auf Mörder getroffen, „die genau dieses Leben in Freiheit hassen“.

Deshalb waren die sechs Anschlagsziele wohl nicht zufällig gewählt. In einem Kommuniqué erklärt die Terrororganisation des selbst ernannten Islamischen Staates (IS), die sich zu den Attentaten bekennt, sie habe diese auf „gründlich im Vorfeld ausgewählte Orte im Herzen der französischen Hauptstadt“ gerichtet, die die „Hauptstadt der Abscheulichkeiten und der Perversion“ sei.

Abgesehen vom Fußballstadion Stade de France in Saint-Denis, einem Vorort im Norden von Paris, liegen sie alle in einem engen Umkreis in der Nähe des Platzes der Republik und des Kanals Saint-Martin. In diesem Szene- und Ausgehviertel pulsiert tags wie nachts das Leben. Hier trifft sich das Party-Volk aus Paris und der ganzen Welt. So sind auch unter den Opfern nicht nur Franzosen, sondern Amerikaner, Schweden, Briten, Belgier und Angehörige weitere Nationalitäten. Auch ein Deutscher ist getötet worden.

Den Auftakt der Terrorserie machten wohl zwei Bomben, die nahe des Fußballstadion in Saint-Denis explodierten. Dem dortigen Freundschaftsspiel zwischen Deutschland und Frankreich sahen auch Präsident Hollande und Bundesaußenminister Frank-Walter Steinmeier zu. Nachdem einer der drei Attentäter, der ein Ticket hatte, aufgrund seiner Sprengstoffweste nicht eingelassen wurde, floh er und brachte die Weste Medienberichten zufolge vor dem Stadion zur Detonation. Auch die beiden anderen sprengten sich dort in die Luft und rissen eine weitere Person mit in den Tod.

Am Sonntagabend bestätigte die französische Regierung, dass die Attentäter vor laufenden Kameras ein Blutbad im Stadion anrichten wollten. Sie hätten kurz nach Spielbeginn versucht, in das Stadion einzudringen. Zwei hätten aber keine Tickets gehabt und seien abgewiesen worden, meldete eine Sportzeitung.

Derweil begannen ihre Komplizen die Attacken auf mehrere Cafés und Restaurants in der Hauptstadt. „Ich habe zwei Männer mit Kalaschnikows gesehen. Sie trugen eine kleine Mütze, aber waren nicht vermummt“, sagt Bernard, der die Schießerei von seinem Fenster aus beobachtet hat. Zwei Minuten lang hätten die Täter auf die Menschen gezielt, die verzweifelt versuchten, sich zu verstecken. „Es war erschütternd. Ich bin immer noch geschockt.“

Die meisten Menschen starben in der Konzerthalle Bataclan, wo sich ein ausgelassener Abend für 1500 Besucher in einen wahren Alptraum verwandelte, als vier unmaskierte, in Schwarz gekleidete Männer eindrangen. Augenzeugen zufolge begannen sie, wahllos in die Menge zu schießen, luden ihre Schnellfeuergewehre immer wieder nach. „Körper lagen am Boden, überall war Blut“, berichtet eine Konzertbesucherin, die sich retten konnte. Drei der Attentäter sprengten sich selbst in die Luft, ein vierter wurde von den Polizisten getötet, die den Konzertsaal schließlich stürmten.

Zu dieser Zeit befand sich Paris bereits in heller Aufregung. „Es war wie im Krieg: Sirenengeheul, überall Polizei und Krankenwagen“, berichtet Martin, ein Anwohner. Die Metros fielen aus, der Verkehr wurde teils umgeleitet, viele konnten oder wagten sich nachts nicht mehr nach Hause, übernachteten bei Freunden. Gleichzeitig liefen die sozialen Netzwerke heiß, begannen die Menschen, ihre Freunde und Bekannte anzurufen, schrieben besorgte Nachrichten: „Geht es dir gut? Bist du in Sicherheit?“ Während man bei den Anschlägen im Januar rasch die Namen der Todesopfer kannte, bei denen es sich teilweise um bekannte Karikaturisten handelte, konnte es diesmal jeden treffen.

Sichtlich mitgenommen verurteilte Hollande noch in der Nacht die Taten als „totale Barbarei“, wählte drastische Worte und sprach, wie Premierminister Manuel Valls, von einem „Krieg“. Es handle sich um einen „Kriegsakt“, sagte der Präsident am Samstag nach einer Krisensitzung: „Ein Akt, den eine terroristische Armee, IS, gegen Frankreich begangen hat, gegen unsere Werte und das, was wir sind, ein freies Land.“ Er versprach eine unerbittliche Reaktion eines Frankreichs, das trotz allem „stark, solide, aktiv, wachsam“ sei und „über die Barbarei triumphieren“ werde.

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