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Schytomyr
Unser Reporter in der Ukraine: Wie Hündin Santa im Luftschutzkeller in Schytomyr den Menschen Trost spendet
Heulen die Sirenen, nimmt Yuliia ihre Hündin mit in die Unterwelt des Wohnblocks. Unterdessen warten am Stadtrand Soldaten auf den Angriff russischer Truppen. Welche Vorwürfe ein Hauptmann dem Westen macht.
Yuliia mit ihrem Hund Santa im Luftschutzkeller in Schytomyr westlich von Kiew. Der kluge Hund gibt allen im 'Bunker' Mut.
Foto: Till Mayer | Yuliia mit ihrem Hund Santa im Luftschutzkeller in Schytomyr westlich von Kiew. Der kluge Hund gibt allen im "Bunker" Mut.
Till Mayer
 |  aktualisiert: 08.02.2024 10:30 Uhr

Vom Lyzeum Nummer 25 steht gerade noch die Hälfte. Die Seite links vom Eingang ist abgesackt. Das Dach weggesprengt. Über dem Erdgeschoss gibt es nur noch Trümmer. Verloren schaukeln halb abgerissene Jalousienfahnen im Wind. Im Hochhaus hinter der Schulruine hat die Druckwelle schwarze Fensterhöhlen hinterlassen.

Yuliia kennt die Ruine des Lyzeums Nummer 25 in Schytomyr, einer Großstadt westlich von Kiew mit einstmals 250.000 Einwohnern. Als die Rakete das Gebäude traf, zitterten auch ihre Fenster im neunten Stock in einem der vielen Wohnblocks der Stadt. "Das war eine gewaltige Explosion", sagt die 48-Jährige. Seitdem vergeht kaum eine Nacht, ohne dass die Sirenen heulen. Sie hat auch eine Warn-App auf dem Smartphone. Meistens vibriert das Handy nach der Sirene. Dann entscheiden Yuliia und ihr Mann Ilia (48), ob sie in den Keller gehen. Oder ob sie die Stühle aus der Küche nehmen und hinter der massiven Betonwand im Gang Platz nehmen. Oder ob sie ganz einfach versuchen, weiterzuschlafen. Letzteres gelingt meist schwer.

In der Region Schytomyr kamen bisher 39 Menschen bei Raketenangriffen ums Leben

Je höher eine Wohnung im Block liegt, desto ungünstiger ist die Sicherheitslage bei einem möglichen Raketeneinschlag. Der neunte Stock ist da keine Glückszahl. Mit welcher zerstörerischen Kraft eine Rakete explodiert, das weiß das Ehepaar nicht nur vom Lyzeum Nummer 25. Bis zum vergangenen Montag kamen nach offiziellen Angaben in der Region Schytomyr 39 Menschen bei Raketenangriffen ums Leben, 340 wurden verwundet.

Das zerstörte Lyzeum Nummer 25 in Schytomyr
Foto: Till Mayer | Das zerstörte Lyzeum Nummer 25 in Schytomyr

An den Krieg erinnert nichts in der Wohnung des Ehepaars. Sie haben gerade ihre ganzen Ersparnisse in die Renovierung investiert. Bad, Toilette und Küche sind neu, die Wände im leicht schimmernden Grauton tapeziert, der Laminat-Fußboden ist frisch verlegt. "Wir waren so stolz, als die Wohnung fertig war. Dann kam die Invasion. Und jetzt?" Yuliia blickt traurig.

In der Ukraine wird wegen des Kriegs kein Alkohol mehr verkauft

Dann kocht Yuliia auf. Ein wenig Fleisch, Kartoffelstampf und Gemüse. Es duftet in der Küche. Ihr Mann stellt eingelegte Gurken auf den Tisch. Sogar ein kleines Gläschen Selbstgebrannten gibt es. Das ist gerade eine Seltenheit. Denn in der Ukraine wird wegen des Kriegs kein Alkohol mehr verkauft. Kaum ist abgeräumt, schon heulen die Sirenen. "Keller?", fragt Yuliia. Ilia nickt. Unten warten schon ein paar Nachbarn. Drei Großmütterchen haben den Weg in den spärlich beleuchteten Gang unter dem Block aus Sowjetzeiten gefunden.

Bei einem russischen Angriff auf die Stadt Schytomyr flüchten die Bewohnerinnen und Bewohner eines Wohnblocks in den Luftschutzkeller.
Foto: Till Mayer | Bei einem russischen Angriff auf die Stadt Schytomyr flüchten die Bewohnerinnen und Bewohner eines Wohnblocks in den Luftschutzkeller.

"Wo sind denn die ganzen anderen Nachbarn?", fragt eine der älteren Frauen - Mascha - stirnrunzelnd. Dann klären die drei Damen ab, wer eigentlich noch im Haus wohnt. Einige, so stellt sich heraus, sind geflohen. "Die ganze Stadt geht doch schon fort", sagt Valentyna 1. Valentyna 2 nickt traurig: "Das ist alles so furchtbar." Um die 250.000 Einwohner hatte Schytomyr vor der russischen Invasion. Laut kommunaler Verwaltung hat fast die Hälfte der Einwohner bisher die Stadt verlassen.

Im Schutzkeller kommen Erinnerungen aus einem anderen Leben hoch

Yuliia hat Santa dabei. Die Hündin ist der heimliche Held im ganzen Keller. Weil sie so gut erzogen ist, hat Yuliia auch die eine oder andere Urkunde mit Santa bei Wettbewerben gewonnen. Das sind Erinnerungen, wie aus einem anderen Leben. Brav sitzt Santa auf der Pritsche mit der leuchtend rosa Decke und blickt wachsam in die Runde. "Unsere kleine, tapfere Santa, wenn sie nur wüsste, was gerade bei den Menschen passiert", sagen die drei Damen. Für den Hund gibt es ein ganzes Dutzend Koseworte.

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Dann lauschen plötzlich alle. War da etwas? Ein Einschlag? Aber nein, Stille. Nichts. Mascha, Valentyna 1 und Valentyna 2 plaudern weiter. Die Themen reichen von den neuesten Frontbewegungen bis zum Unterschied zwischen einem traditionellen ukrainischen Borscht und der russischen Variante. Yuliia hört ihnen mit müden Augen zu und versucht, den drei Seniorinnen ein Lächeln zu schenken. Doch der Krieg raubt der schlanken Frau mit den hellen blauen Augen viel Energie. Oft denken auch Yuliia und ihr Mann daran zu fliehen. Doch der 48-Jährige darf als potenzieller Wehrpflichtiger nicht mehr aus der Ukraine ausreisen. Und wo Unterschlupf finden? "Von Lwiw bis in die Karpaten gibt es praktisch keine freien Wohnungen mehr", erklärt Yuliia.

Checkpoints aus Sandsäcken und Panzersperren an den Kreuzungen

Dann - nach gut einer Stunde - stehen die Großmütterchen und das Ehepaar auf. Santa freut sich schwanzwedelnd auf die frische Luft. Aus einem anderen Kellerteil kommen ein paar weitere Nachbarn zum Vorschein. "Spokoynoy nochi" - "Gute Nacht", sagt Valentyna 1 auf Russisch vor dem Kellereingang. Der Mond scheint hell auf den Innenhof. In den Hochhäusern darum herum brennt vereinzelt Licht. Dann ärgert sie sich und schiebt die ukrainische Variante "Nadobranich" hinterher. "Russisch? Den Gefallen tun wir Putin nicht. Nadobranich", sagen die beiden anderen Rentnerinnen. Dann verschwinden die drei im Hauseingang.

Es wird noch weitere zwei Alarme in dieser Nacht geben. Am Morgen folgt der dritte. Eine milde Wintersonne taucht die grauen Wohnblöcke in ein goldenes Licht. Autos rollen gemächlich über den Asphalt. Alles wirkt friedlich, wären da nicht die Checkpoints aus weißen Sandsäcken und Panzersperren aus schwarzen Stahlträgern an den Kreuzungen. Am Stadtrand, Richtung Westen, hat ein Raketeneinschlag drei kleinere Häuser zerstört. Die Druckwelle reichte aus, um die Wände einzureißen. Der Krater klafft hinter den Ruinen. Der Angriff galt einer Militärakademie auf der gegenüberliegenden Seite, deren Dach schwer beschädigt wurde.

86-Jährige: "Mein Gott, ich hätte nicht gedacht, dass ich so etwas noch einmal erleben muss"

Die 86-jährige Zinaida läuft mit ihrem Mann Mischa langsam und vorsichtigen Schrittes über das aufgewühlte Erdreich in der Nähe der Ruinen. "Dahinten ist ein Krankenhaus. Stellen Sie sich vor, es hätte noch viel schlimmer kommen können", sagt die Seniorin. "Schon einmal wurde diese Stadt bis auf die Grundmauern zerstört. Das war im Zweiten Weltkrieg. Mein Gott, ich hätte nicht gedacht, dass ich so etwas noch einmal erleben muss", schüttelt die alte Frau den Kopf.

Zinaida und ihr Mann Mischa vor Häusern in Schytomyr, die durch einen Raketenangriff zerstört wurden.
Foto: Till Mayer | Zinaida und ihr Mann Mischa vor Häusern in Schytomyr, die durch einen Raketenangriff zerstört wurden.

Gut ein Kilometer weiter endet die Stadt mit einem mächtigen Checkpoint. Hauptmann Valeriy verrichtet hier seinen Dienst. Er würde Zinaida vermutlich nicht widersprechen. "Wir werden hier in Schytomyr kämpfen müssen, da bin ich mir ganz sicher",  erklärt der 54-Jährige in seiner Kampfmontur. Er hatte schon 2014 für die Ukraine zur Kalaschnikow gegriffen. Russland hatte nach der Annexion der Krim den Krieg in den Osten des Landes getragen. "Diesen Krieg habt ihr im Westen vergessen. Acht Jahre gab es Zeit, etwas zu tun. Hätte es damals umgehend ähnlich schwere Embargos wie heute gegeben, ich würde heute nicht an einem Checkpoint stehen." Seine Worte klingen bitter.

Über den Autor

Till Mayer berichtet für unsere Redaktion über den russisch-ukrainischen Krieg.
Foto: Till Mayer | Till Mayer berichtet für unsere Redaktion über den russisch-ukrainischen Krieg.
Till Mayer ist Lokalredakteur bei der Main-Post-Tochter Obermain Tagblatt in Lichtenfels. Darüber hinaus arbeitet er seit vielen Jahren eng mit internationalen Hilfsorganisationen zusammen und berichtet aus Kriegs- und Krisengebieten – so auch seit 2007 aus der Ukraine.
Seit fünf Jahren ist der Krieg im Osten des Landes für den oberfränkischen Reporter und Fotografen ein Langzeitprojekt. Im Erich-Weiß-Verlag ist sein Bild- und Reportagenband "Donbas – Europas vergessener Krieg" erschienen. Für seine Reportagen wurde Till Mayer mehrfach ausgezeichnet.
Gerade ist er wieder in die Ukraine aufgebrochen. Nach der jüngsten russischen Großinvasion erzählt er mit seinen Fotos und Texten für diese Redaktion von den menschlichen Schicksalen.
Quelle: MP
 
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