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Lwiw
Unser Reporter in der Ukraine: Wie der Krieg alte Wunden aufreißt und neues Leid verursacht
Hanna Kerch hat als Kind den Zweiten Weltkrieg erlebt. Die Invasion macht auch ihr Leben schwer, raubt ihr Kraft. Unser Reporter Till Mayer hat die 85-Jährige getroffen, die sich ihren Mut trotz allem nicht nehmen lässt.
Hanna Kerch hat als Kind im Zweiten Weltkrieg Schlimmes erleben müssen. Die russische Invasion ruft unselige Erinnerungen wach.
Foto: Till Mayer | Hanna Kerch hat als Kind im Zweiten Weltkrieg Schlimmes erleben müssen. Die russische Invasion ruft unselige Erinnerungen wach.
Till Mayer
 |  aktualisiert: 10.05.2023 09:59 Uhr

Den schmalen, kurzen Graben kann Hanna Kerch nicht vergessen. Ihre Mutter hatte ihn mühsam mit einer Schaufel ausgehoben. Gerade da, wo der Wald nahe ihrem Heimatdorf Bronka in den Karpaten beginnt. Auf dem Boden schützte eine dicke Lage Blätter und Nadeln vor dem feuchten Lehm. Jedes Mal, wenn die Soldaten in Bronka anrückten, musste Hanna Kerch in den Graben klettern. Als es anfing, war sie gerade fünf Jahre alt. Ihre kleine Schwester, die sie stets fest an sich drückte, nur zwei.

"Wir mussten immer dann in den Graben, wenn die Soldaten kamen", berichtet die 85-Jährige von ihren Erlebnissen im Zweiten Weltkrieg. Das waren zuerst die Deutschen. Sie hatten im Dorf die Brücke weggebombt und den Bahnhof. Später verschleppten sie ihren Vater als Zwangsarbeiter. Dann zog die Rote Armee durch Bronka. "Die nahmen uns viele Lebensmittel und Tiere, weil sie selber nichts zu essen hatten", sagt Hanna Kerch. Durch ihr beschauliches Dorf führte eine strategisch wichtige Straße. In einem Krieg ist das verhängnisvoll.

Hanna Kerch: "Ich habe nicht die Kraft, den ganzen Tag all das Schlimme zu sehen"

"Es war kalt, finster, nass und eng, über unseren Köpfen spannten sich Zweige und Äste. Meine Schwester und ich fürchteten uns zu Tode. Das Warten bedeutete eine grausame Ewigkeit für uns Kinder. Stunden fühlten sich für uns Kinder wie ganze Tage an. Still sollten wir sein, dass hatte uns unsere Mutter eingeschärft. Aber meine Schwester konnte das nicht verstehen, sie war ja noch kleiner als ich", sagt die 85-Jährige. "Bis zu meinem letzten Atemzug werde ich das nicht vergessen können. Es bleibt, wie ein böser Traum", fügt sie hinzu.

Dann ist es still in ihrer kleinen Wohnküche. Die alte Frau lebt in einem der grauen Wohnblocks aus Sowjetzeiten, die die Altstadt von Lwiw umschließen. Eine Couch steht in der schmalen Küche. Kaum mehr als eine Armlänge entfernt, reihen sich gegenüber Gasherd, Waschmaschine und ein Küchenbord aneinander. Auf letzterem steht der betagte Röhrenfernseher aus den 1990-er Jahren. "Früher hat er mir Unterhaltung gebracht, jetzt nur noch schlimme Nachrichten. Deswegen bleibt er jetzt meistens aus. Ich habe nicht die Kraft, den ganzen Tag all das Schlimme zu sehen", seufzt Hanna Kerch.

Gebete für die Kinder, die den Krieg erleben müssen

Der Krieg bestimmt das Fernsehprogramm. Auf allen Kanälen rollen Panzer, brennen Häuser. Der russische Beschuss einer Geburtsklinik in Mariupol trifft die Zuschauerinnen und Zuschauer tief. Hanna Kerch muss bitter weinen, wenn sie solche Nachrichten erfährt. "Es fällt mir schwer, das alles sehen zu müssen. Wie kann die Entscheidung eines Mannes in Russland nur so viel Leid und Unglück bringen", sagt die alte Frau.

Hanna Kerch und Rotkreuz-Schwester Nadiya Masuk sehen zusammen Nachrichten. Oft kann die alte Frau die Tränen nicht halten, wenn sie die Bilder von Krieg und Zerstörung sieht. Aber sie will auch wissen, was in "ihrer" Ukraine geschieht.
Foto: Till Mayer | Hanna Kerch und Rotkreuz-Schwester Nadiya Masuk sehen zusammen Nachrichten. Oft kann die alte Frau die Tränen nicht halten, wenn sie die Bilder von Krieg und Zerstörung sieht.

Die alte Dame holt ein Gebetsbuch hervor. Kleine Papierstücke darin zeigen ihre Lieblingspassagen. "Mindestens drei Mal am Tag ist für mich Gebetszeit. Ich bete nicht für mich, sondern für die jungen Menschen. Vor allem für die Kinder, die nun auch solche schlimmen Erinnerungen wie ich haben werden. Und für meine Ukraine, damit sie stark bleibt", erklärt Hanna Kerch.

Einsame alte Menschen haben niemanden, mit dem sie ihre Angst teilen können

Die schweren Kämpfe finden noch weit entfernt von Lwiw, das im äußersten Westen des Landes liegt, statt. Doch auch in Lwiw heulen immer wieder die Sirenen, Sandsäcke schützen öffentliche Gebäude. Uniformierte patrouillieren mit Kalaschnikows. Der Krieg ist mit 200 000 Binnenvertriebenen schon in der Stadt angekommen. "Aber in den Keller schaffe ich es bei einem Alarm oder einem Angriff nicht. Ich bin ja schon froh, wenn ich aufstehen und mir meinen Borscht aufwärmen kann", sagt die 85-Jährige.

Rotkreuz-Schwester Nadiya Masuk greift nach der Hand der alten Frau. "Wie oft habe ich meine Hanna in den vergangenen Tagen weinen sehen", sagt die 59-Jährige traurig. Die Rotkreuz-Schwester versorgt die alte Frau mit Medikamenten, misst den Blutdruck und nimmt sich vor allem Zeit für ein Gespräch. "Wir alle leiden psychisch unter dieser Situation. Aber einsame alte Menschen trifft es besonders hart. Sie haben niemanden, mit dem sie ihre Angst teilen können", sagt Nadiya Masuk.

Hanna Kerch stehen etwa 90 Euro Rente im Monat zur Verfügung

Außer der Krankenschwester oder Nachbarn, die mit Besorgungen helfen, hat Hanna Kerch keine Gesprächspartner. Einmal in der Woche nimmt die 85-Jährige ihr kleines Tastenhandy und ruft bei ihrer Schwester in Bronka an. "Aber ein allzu langes Gespräch kann ich mir nicht leisten", erklärt sie. Hanna Kerch stehen etwa 90 Euro Rente im Monat zur Verfügung. Fast die Hälfte muss sie nach eigenen Angaben für Heizung, Strom und Wasser bezahlen. Vor allem die Heizkosten für Gas sind gestiegen.

Dann hat sie eine lange Liste von chronischen Erkrankungen: Sie leidet an Diabetes, braucht Mittel für das kranke Herz und die schmerzenden Beine. . . Zumindest erhält die alte Frau den Großteil ihrer Medikamente kostenlos, dank eines Projekts des örtlichen Roten Kreuzes und des DRK-Landesverbands "Badisches Rotes Kreuz". Das finanziert seit vielen Jahren die Medikamenten-Verteilung und die Schwestern-Gehälter. Einmal im Monat gibt es auch einen große Plastiktüte voller Lebensmittel, die Nadiya Masuk mitbringt. Weiter gibt es ein kleines Medico Soziales Zentrum (MSZ), dass eine Anlaufstelle für alte Menschen ist und die Schwestern-Station beherbergt. Auch Erste-Hilfe-Kurse finden dort statt. Sie sind besonders in dieser Zeit wichtig, falls es zu Kämpfen in der Stadt kommt.

Auch in Lwiw leeren sich in den Supermärkten die Regale langsam Stück für Stück

"Ich wüsste nicht, wie es ohne diese Hilfe gehen sollte. Das ist traurig. Ich habe mein Leben lang gearbeitet. Zuerst auf dem Hof, dann lange Zeit als Köchin in einem Restaurant in Lwiw. Beides war harte Arbeit. Und jetzt reicht die Rente nicht einmal zu einem würdigen Leben aus. Jetzt kommt noch die Invasion dazu. Wenn mir meine Nadiya nicht immer Mut in dieser schlimmen Zeit machen würde . . .", sagt Hanna Kerch leise.

Rotkreuz-Schwester Nadiya Masuk bringt Hanna Kerch nicht nur Medikamente und Lebensmittelpakete, die ein vom Badischen Roten Kreuz unterstütztes Projekt finanziert - sie gibt Mut in einer schweren Zeit.
Foto: Till Mayer | Rotkreuz-Schwester Nadiya Masuk bringt Hanna Kerch nicht nur Medikamente und Lebensmittelpakete, die ein vom Badischen Roten Kreuz unterstütztes Projekt finanziert - sie gibt Mut in einer schweren Zeit.

Nadiya Masuk drückt ihre Hand fest. Sie erzählt ihr lieber nicht, dass sich auch in Lwiw in den Supermärkten die Regale langsam Stück für Stück weiter leeren. Auch wenn die Grundversorgung noch gewährleistet ist. Dass die Preise ansteigen, kann sie ihr nicht verheimlichen. Ein Weißbrot kostete beispielsweise vor der Invasion umgerechnet knapp 50 Cent, jetzt sind es 72 Cent. Gemeinsam schauen die beiden dann kurz Nachrichten an. "So sehr es mir weh tut, aber ich muss natürlich wissen, was in der Ukraine passiert", sagt sie. Die wenigen Minuten kosten der alten Frau sichtbar viel Kraft.

Dann wagt sie ein Lächeln. "Wissen Sie, es ist wichtig, sich jetzt seine schönen Erinnerungen wach zu halten. Mit sieben hütete ich zum ersten Mal eine Kuh. Da war ich schon stolz. So ein kleines Mädchen, wie ich damals war. Verantwortlich für dieses riesige Tier. Und dann rannte sie einfach davon. Weg war sie, wie vom Erdboden verschluckt. Ich habe bitter geweint. Für mich ging die Welt unter. Und plötzlich stand sie wieder vor mir. Für mich als Kind war das ein kleines Wunder. Seine Hoffnung darf man nie aufgeben. Das habe ich damals gelernt", sagt die 85-Jährige zum Abschied.

Über den Autor

Till Mayer ist Lokalredakteur bei der Main-Post-Tochter Obermain Tagblatt in Lichtenfels. Darüber hinaus arbeitet er seit vielen Jahren eng mit internationalen Hilfsorganisationen zusammen und berichtet aus Kriegs- und Krisengebieten – so auch seit 2007 aus der Ukraine.
Seit fünf Jahren ist der Krieg im Osten des Landes für den oberfränkischen Reporter und Fotografen ein Langzeitprojekt. Im Erich-Weiß-Verlag ist sein Bild- und Reportagenband "Donbas – Europas vergessener Krieg" erschienen. Für seine Reportagen wurde Till Mayer mehrfach ausgezeichnet.
Gerade ist er wieder in die Ukraine aufgebrochen. Nach der jüngsten russischen Großinvasion erzählt er mit seinen Fotos und Texten für diese Redaktion von den menschlichen Schicksalen.
Quelle: MP
 
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