Die milde Wintersonne taucht die Stadt in ein helles Licht. "Das tut gut", sagt Andrew. Und hält das Gesicht nach oben. Er lehnt mit dem Rücken an der leicht ergrauten Wand der Dominikaner-Kathedrale im Herzen der Stadt. Weiße Sandsäcke leuchten dort, wo sie Fenster schützen. Andrew blinzelt etwas müde in die Sonne. Mitten in der Nacht heulten in Lwiw wieder einmal die Sirenen. Lang anhaltender als sonst, minutenlang ging es. Die ganze Stadt wurde aus dem Schlaf gerissen.
Lwiw blieb zum Glück verschont. Doch die Einschläge kommen näher. Andrew weiß das. Die Raketen trafen dieses Mal etwa 50 Kilometer entfernt ein Militärgelände. 35 Tote, so die offizielle Mitteilung. 35 von vermutlich Hunderten, die derzeit täglich in einem Krieg umkommen, der der Ukraine von Russland aufgezwungen wurde. "Eigentlich verstehe ich nur vom Kopf her, was passiert - aber in meinem Herz ist es noch nicht angekommen. Ich weiß, was zu tun ist, aber ich kann es nicht begreifen, wie sich alles in so kurzer Zeit verändern kann", sagt der 20-Jährige.
"Auf der Krim durfte nur die offizielle Meinung gesagt werden - Wer ausscherte, bekam Probleme"
Der junge Mann kann die jüngste ukrainische Geschichte aus eigener Erfahrung erzählen. Sie verlangt ihm viel ab. Andrew stammt von der Krim. Er war zwölf Jahre alt, als die russische Invasion begann. "Plötzlich waren sie da. Die Soldaten in Olivgrün und ohne Abzeichen. Kein Wort haben sie gesagt. Es war gespenstisch", erinnert sich Andrew. Die Lehrer ließen die Kinder nur in Begleitung von Erwachsenen nach Hause gehen. "Es waren Tage der Unsicherheit", so der heute 20-Jährige. Nachdem der Schock für ihn vorbei war, kehrte Alltag ein. "Ich war ein Kind. Mich interessierten Fantasy-Geschichten: Herr der Ringe, Narnia, Aragon. Solche Sachen eben. Politik, dafür war ich zu jung", berichtet er.
Das änderte sich schon zwei, drei Jahre später. Andrew war mittlerweile ein Teenager, der viel in Frage stellte. "Auf der Krim durfte nur die offizielle Meinung gesagt werden. Putin, Putin, Putin. Wer ausscherte, bekam Probleme", erinnert sich Andrew. Doch der Teenager scherte aus. In seinem Zimmer hing bald eine Fahne der Ukraine. "Mein älterer Bruder studierte in Kiew. Ich besuchte ihn öfters. Mir gefiel die Atmosphäre dort. Sie war offen. Die jungen Menschen diskutierten viel. Machten sich Gedanken über die Zukunft ihres Landes. Es war nicht dieser grobe und aggressive großrussische Nationalismus, den ich auf der Krim kennengelernt hatte." Mit seinem Bruder reiste er nach Polen, Deutschland und Italien. "Mir wurde dabei immer bewusster, wie engstirnig es auf der Krim zugeht", fügt er hinzu.
Studium auf der Krim wegen russischer Propaganda nicht abgeschlossen
Sein Studium begann Andrew trotzdem auf der Krim. "Ich studierte Politikwissenschaften in Sewastopol. Ich habe es einen Monat ausgehalten. Das war kein Studium, dass war eine plumpe Gehirnwäsche. Mein Professor hat uns erzählt, was Stalin für ein großartiger Führer war. Nur eine Sichtweise war zugelassen. Es war für mich unerträglich."
Dann sei sein Vater noch von einem Polizisten angesprochen worden - er sollte mäßigenden Einfluss auf seinen Sohn nehmen. "Ich stand also schon unter Beobachtung, und beschloss, endgültig zu gehen", sagt Andrew. 2020 zog er dann nach Kiew und startete dort ein Informatikstudium. "Zusätzlich begann ich einen Zusatzkurs in Game Developing. Ich habe mich wohl in der Stadt gefühlt, gute Freunde gefunden. Dann kam der 24. Februar."
Andrew hört zum ersten Mal in seinem Leben Raketen einschlagen: "Es war beängstigend für mich. Es war völlig unwirklich, was da passierte. Es ist völlig unwirklich, was jetzt in meinem Land passiert." Mit dem Zug flieht Andrew nach Lwiw. Er kommt am Bahnhof an. Dort werden täglich über 50 000 Menschen auf der Flucht hindurchgeschleust. Dicht an dicht stehen die Menschen über Hunderte von Metern. 250 000 Vertriebene sind in der Stadt gestrandet. Lwiw zählt deutlich weniger als eine Million Einwohner.
Im Fußballstadium am Stadtrand lassen sich viele registrieren und erhalten eine warme Mahlzeit. Es sind müde, oft fassungslose Gesichter, in die man blickt. "Es schmerzt mich, wenn ich ihre Blicke sehe. Vor allem die der Kinder. Es ist ein furchtbares Unrecht, das hier passiert. Aber wir werden Putin nicht siegen lassen. Das Gute siegt, daran glaube ich", sagt der 20-Jährige mit fester Stimme.
Den Kontakt zu seiner Mutter hat Andrew abgebrochen
Auch Andrew ist nun selbst eine Internal Displaced Person (IDP) - ein Binnenvertriebener. "Es klingt eigenartig für mich: Ich bin ein IDP. Aber eigentlich war ich es ja schon zuvor, als ich die Krim verließ. Sie fehlt mir natürlich", sagt der junge Mann. Zu seiner Mutter hat Andrew keinen Kontakt mehr. "Sie ist 100 Prozent pro Putin. Als ich ihr sagte: 'Mutter, wir werden gerade in Kiew bombardiert. In der Stadt schlagen Granaten ein.' Hat sie gesagt, dass das nicht wahr sei. Es schmerzt, wenn die Mutter der russischen Propaganda mehr glaubt als ihrem eigenen Sohn. Das war zu viel für mich", berichtet Andrew. Dann schweigt er kurz.
"Als ich in Lwiw ankam, habe ich mich gleich als Freiwilliger gemeldet. Zuerst bei den Pfadfindern. Dort ist eine Freundin Mitglied und wir sortierten Hilfsgüter. Dann wechselte ich zu einer städtischen Einrichtung und sortierte weiter. Es tut gut, helfen zu können. Man ist für andere da, aber man stärkt sich auch selber", erklärt Andrew.
Andrew will nicht aus der Ukraine fliehen
Dann habe ein Freund ihn gefragt, ob er dem Verfasser dieses Artikels als Dolmetscher helfen könnte. "Das mache ich gerne. Weil es wichtig ist, dass in Deutschland die Menschen erfahren, was die Ukraine durchmacht. Das Sterben geht weiter, wenn nicht endlich der Luftraum geschlossen wird. Auch hier kann es jeden Tag beginnen", erklärt der 20-Jährige. Manchmal überlegt sich der junge Mann, freiwillig zu den Territorialstreitkräften zu gehen: "Aber vermutlich wäre ich ein schlechter Soldat, ich habe keinerlei militärische Ausbildung. Ich muss zugeben, der Krieg macht mir Angst. Ich versuche, mit dem zu helfen, was ich am besten kann", erklärt Andrew.
Kurz vor der Invasion war Andrew noch in Malaga. "Oh, das war eine wunderschöne Erfahrung. Ich habe mich ein wenig in Spanien verliebt. Warum nicht in Spanien leben und lernen, dachte ich mir. Aber jetzt will ich in keinem anderen Land der Welt sein als in der Ukraine. Es gibt hier eine Aufgabe zu erfüllen. Putin hat mit seiner Invasion das Gegenteil von dem erreicht, was er wollte. Weil alle merken, wie sehr wir unser Land lieben."