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Nachrichtensprache belastet Menschen, die vor Elend, Krieg und Terror geflohen sind
FlüchtlingskriseÜberschrift       -  Aus einer Titelseiten-Überschrift der Main-Post...
| Aus einer Titelseiten-Überschrift der Main-Post...
Anton Sahlender
Anton Sahlender
 |  aktualisiert: 15.07.2024 08:50 Uhr
Flüchtlingskrise: Die Algorithmen der Internet-Suchmaschinen sprechen darauf an und geben diesen Begriff somit auch vor. Nicht nur die: Auch Medien bedienen dieses Such- und Schlüsselwortes. Wenn "Flüchtlingskrise" geschrieben steht, geht es hierzulande um Menschen, die vor Elend, Verfolgung und Krieg in ihren Herkunftsländern auf der Flucht sind und dabei vor allem Deutschland in großer Zahl erreichen. Zusammenfassend hat sich dafür "Flüchtlingskrise" in den Nachrichten ausgebreitet. Man muss sich gerade deshalb die Frage stellen, ob es zutreffend ist.
Im Internet-Netzwerk habe ich deshalb folgende Frage zur Diskussion gestellt:

"Warum wird immer von #Flüchtlingskrise geschrieben und gesprochen? Warum wird eine Krise sprachlich und damit wohl auch moralisch bei hilflosen Menschen abgelagert, die vor Elend, Krieg und Terror geflüchtet sind?

Ursachen bleiben auf der Strecke

Wertfrei, wie man es in der Nachrichtensprache erwarten muss, ist "Flüchtlingskrise" jedenfalls nicht. Es macht Flüchtlinge zum Problem. Es verkürzt, indem es die Krise alleine in den flüchtenden Menschen ausmacht, sie damit auf hilflose Menschen ablädt. Ursachen für ihre Flucht und deren Verursacher bleiben in diesem einen Wort auf der Strecke. Sie kommen darin nicht vor. Es fehlt einfach, worin die Krise wirklich liegt: Etwa in weltpolitischem Versagen oder darin, dass politisch auch bei uns nicht vorgesorgt wurde. Geht deshalb nun die Registrierung bürokratisch viel zu langsam voran und kann deshalb nicht schnell genug geeigneter Wohnraum erschlossen werden? Alles das ist in einem Wort ausgeblendet. Fokussiert bleiben übrig: "Flüchtling" und "Krise".
 

Darüber nachdenken, wie Worte wirken

Ja, jeder Flüchtling befindet sich zweifellos aufgrund der Fluchtumstände persönlich in einer Krise. Aber diese Krise ist mit dem verbreiteten Schlüsselwort "Flüchtlingskrise" nicht gemeint. Wie habe ich dieser Tage bei einer Diskussion im Netzwerk Facebook dazu gelesen:

"Im Gegensatz zur Bankenkriese, wo richtigerweise der Verursacher im Wort genannt wurde, verschleiert 'Flüchtlingskrise' die eigentlichen Verursacher."


Kontroverse Diskussionen haben in jüngster Zeit schon andere Worte ausgelöst. Dazu gehören "Flüchtlingslawine" oder gar "Flüchtlings-Tsunami". Sie sind abzulehnen, auch weil darin kaum vergleichbare, gewaltige Natur-Ereignisse mit flüchtenden Menschen gleichgemacht werden. Das ist nicht fair und unzutreffend. Und erst in diesen Tagen hat ein Main-Post Journalist noch in einer kritischen Betrachtung der AfD so trefflich geschrieben:

"Das Grundrecht auf freie Meinungsäußerung befreit Politiker nicht von der Verantwortung, vorher darüber nachzudenken, wie ihre Worte wirken."

Ich erweitere diese Feststellung: Sie gilt noch mehr für Journalisten.
 

Humanität ist eine Grundlage des Journalismus

Die Zahl der Menschen, die auf der Flucht sind und dabei millionenfach auch Deutschland erreichen, übersehe ich nicht. Sie werden zu einer Herausforderung, deren Bewältigung nicht einfach ist. Aber dann geht es doch auch um die Frage, was in dieser angespannten Situation Worte auslösen und welche Botschaft sie vermitteln können? Die ist gerade an Journalisten zu richten, in einer Zeit, in der sie sich schwachen Menschen verpflichtet sehen müssen. Denn Humanität ist eine Grundlage für Journalismus, den sie gehört zu Freiheit und Demokratie. Das lassen Leitlinien und Kodizes erkennen.

Das folgende Beispiel hat mich zu diesem Beitrag veranlasst: Am 4. Dezember 2015 war auf der Titelseite der Main-Post in der Unterzeile zur Überschrift "Jetzt Lehrer werden!" zu lesen:

"Flüchtlingskrise: Regierung sucht dringend 130 neue Kräfte, notfalls ohne Referendariat".

Warum "Flüchtlingskrise" hier eine Bewertung darstellt, lässt sich über eine Frage verdeutlichen, weil sie in die andere Richtung zielt: Warum wird stattdessen nicht "Flüchtlingschance" oder mindestens "Flüchtlingsherausforderung" verwendet? Immerhin gibt es nicht wenige Leute, die in der Zuwanderung eine Chance für Deutschland erkennen. Die bleiben unberücksichtigt, wenn daraus plötzlich unentwegt nur eine Krise gemacht wird?
Nein, das ist kein Unsinn und keine Wortklauberei wie es in einem Diskussionsbeitrag dazu auf Facebook steht. Worte können das Bewusstsein prägen und auch die Handlungen. Und es geht um journalistische Wahrhaftigkeit.

Als Beispiel nachzutragen ist hier ein umfangreiches Interview mit Bundeskanzlerein Angela Merkel, gedruckt erschienen am Samstag, 12.12.15: Darüber steht in der Printüberschrift u.a.:
„Angela Merkel über die Flüchtlingskrise“
.
Über die Flüchtlingskrise? Warum nur? Dieses Wort fällt im veröffentlichten Gespräch doch nie, weder in den Fragen, noch sagt es Frau Merkel. Aber auch online haben Journalisten zusammengefasst:

"Interview mit der Kanzlerin: Angela Merkel über die Flüchtlingskrise, ...

Am Ende fügen Journalisten erklärend hinzu:

"Sparsam in der Gestik, freundlich-konziliant im Ton und offenbar fest davon überzeugt, dass Deutschland nach der Finanzkrise nun auch die Flüchtlingskrise meistert: Diese Frau, so scheint es, ist mit sich im Reinen."

Letzteres es mag ja sein: Aber hat sie, die ihre Worte abwägt, selbst von "Flüchtlinskrise" geredet. Jedenfalls nicht im Interview...
Mit diesen Zeilen wird kein Interview bewertet, aber die journalistischen Erklärungen dazu.

Ein ungeeignetes Kennwort

Die Botschaft die durch das Wort "Flüchtlingskrise" alleine ankommen kann, ist die, dass die Flüchtlinge selbst durch ihre Flucht eine Krise herbeigeführt haben. Damit wird von Terror, Krieg und Elend ohnehin schwer belasteten Personen auch noch Schuld zugewiesen. Das heißt gleichzeitig, dass jene politischen Kräfte dadurch moralisch gestärkt werden, die Grenzen dichtmachen wollen. Schlimmer noch: Das Wort können Leute zur Rechtfertigung nutzen, die meinen, Flüchtlingen offen ablehnend entgegentreten zu müssen und für jene, die mit Gewalt und gefährlichen Anschlägen auf Unterkünfte reagieren.
Kontraproduktiv ist dagegen das Wort "Flüchtlingskrise" für die Menschen, die selbstlos helfen und die auf vielfältige Weise zur Integration beitragen. Damit tut sich geradezu eine verbale Blockade für die Integration auf.
Nein, wertfrei ist "Flüchtlingskrise" nicht. Es ist ein ungeeignetes Kennwort.
 

Lasst es doch einfach beim Wort des Jahres!

Um einen weiteren Nachtrag erweitere ich diesen Beitrag. Das erscheint notwendig. Denn, "Flüchtlinge" sind als Wort des Jahres ausgewählt worden. In der Begründung heißt es, dass das Wort "Flüchtlinge" die zentrale gesellschaftliche Diskussion auf den Punkt bringt. Die angehängte Krise, das befürchte ich, befördert die Diskussion in eine Ecke und stärkt dort finstere Kräfte, die Flüchtlingen feindselig gegenübertreten. Warum lassen es Journalisten nicht einfach bei Flüchtlingen? Es wäre wichtig. Ängste sollten nicht erzeugt werden, wie es dem Leitartikel "Flüchtlinge, Terror und ein Appell" zu entnehmen ist.

Internet-Algorithmen dürfen Journalisten nicht die Hand führen

Journalisten sollten professionell und selbstsicher genug sein, aus dem "Mainstream" um das Wort "Flüchtlinskrise" auszusteigen. Internet-Algorithmen dürfen ihnen nicht die Hand führen. Die heben nicht ihre Sorgfaltspflicht auf.
Burkard Hose, Würzburger Friedenspreisträger 2014 und Studentenpfarrer, aktiv in der Flüchtlingshilfe und im Widerstand gegen rechts, hat in einer Diskussion auf Facebook die Befürchtung geäußert:

"Die sogenannte Flüchtlingskrise ist in meinem Erleben eher eine Humanitätskrise."


Es ist schlimm um unsere Gesellschaft bestellt, ginge die Bewertung von Burkard Hose, ginge die "Humanitätskrise" als Tatsache durch. Es wäre schon schlimm genug, wenn man befürchten muss, dass es für die Situation deutlich angemessener ist als "Flüchtlingskrise".

Anton Sahlender, Leseranwalt
 
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Kommentare
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  • Also ich bin gerade tief beeindruckt! Lieber Herr Sahlender, Sie machen Ihrer Bezeichnung als "Leseranwalt" nun wirklich alle Ehre! Dass Mitarbeiter einer Redaktion andere Mitarbeiter derselben Redaktion öffentlich kritisieren, dabei aber unentwegt sachlich bleiben, davor ziehe ich meinen Hut. Ich ziehe aber nicht nur meinen Hut vor Ihnen, sondern vor der gesamten Redaktion, die sich dafür offensichtlich ganz bewusst entschieden hat. Ich bin begeistert, denn so nehmen Sie denjenigen den Wind aus den Segeln, die immer von "Mainstream"-Journalismus und "Lügenpresse" krakelen. Die Main-Post ist somit die erste Zeitung, bei der mir eine derartig pluralistische Meinungsbildung und -äußerung aufgefallen ist. Bravo! Und vor allem: Weiter so!! grinsen
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  • antonsah
    Herzlichen dank, Sie bereiten der Redaktion und mir eine unerwartete und seltene Freude. Und das vor Weihnachten. Ich hoffe, die MP kann diesem Lob weiterhin gerecht werden. Aber ganz so einmalig sind wir nicht. Siehe auch www.vdmo.de...
    Anton Sahlender, Leseranwalt
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