
In einem aktuellen Interview mit dieser Redaktion äußert sich Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) zur Flüchtlingskrise, den Kampf gegen den Terror und den Ärger mit Horst Seehofer und der eigenen Parteibasis.
Angela Merkel: Horst Seehofer wird bei uns sehr gut empfangen werden.
Merkel: Wir alle in der CDU werden ihn sehr gut empfangen. Zum CSU-Parteitag ist ansonsten wirklich alles gesagt.
Merkel: CDU und CSU haben viele gemeinsame Überzeugungen in der Flüchtlingspolitik. Wir helfen denen, die unseren Schutz brauchen. Damit wir das leisten können, müssen wir denen, die nicht schutzbedürftig sind, sagen, dass sie unser Land wieder verlassen müssen. Die meisten Flüchtlinge kommen ja in Bayern an, und Bayern leistet Bewundernswertes – von der Kommunalpolitik über die Staatsregierung bis zu den vielen Ehrenamtlichen. Mustergültig sind auch Bayerns Aufnahmezentren für Asylbewerber aus den Balkanstaaten, deren Anträge keine Aussicht auf Erfolg haben und die deshalb zurückgeschickt werden müssen.
Wir sind dabei, die Verfahren zu beschleunigen, Rückführungen zu erleichtern. Wir helfen Ländern und Kommunen finanziell, und wir wissen, dass wir am Ende eine europäische Lösung brauchen. Daran arbeite ich, zusammen mit der CSU. Wir haben das gemeinsame Ziel, die Zahl der bei uns ankommenden Flüchtlinge zu reduzieren - durch besseren Schutz der EU-Außengrenzen, durch eine Entwicklungszusammenarbeit, die Fluchtursachen bekämpft, und mithilfe einer umfassenden migrationspolitischen Partnerschaft mit der Türkei, die in diesen Tagen begründet wird.
Merkel: Seit Ende August haben wir in der Bundesregierung viele Maßnahmen beschlossen, die helfen werden, den Prozess der Flüchtlingsbewegung zu ordnen und zu steuern, mit Reformen im Bamf, mit nationalen gesetzlichen Maßnahmen und mit europäischen Initiativen.
Mit dem afghanischen Präsidenten habe ich gerade erst besprochen, dass der verlängerte Bundeswehreinsatz dort natürlich auch dazu dient, Stabilität und Schutz zu gewähren, damit junge Afghanen nicht mehr zu fliehen brauchen, sondern eine Zukunft im eigenen Land haben. Mit Pakistan und anderen Staaten reden wir intensiv über die Rückübernahme abgelehnter Asylbewerber. Afrika helfen wir, Ausbildungsplätze für Jugendliche zu schaffen. Aber wir wissen auch, dass diese Maßnahmen ihre Zeit brauchen.
Merkel: Ich arbeite für eine Reduzierung der Zahlen. Es ist aber eine Illusion zu glauben, dass wir das Flüchtlingsproblem an der deutsch-österreichischen Grenze lösen könnten. Große Fluchtbewegungen können nur durch internationale Kooperation bewältigt werden.
Merkel: Die Vergleiche hinken. Bei der Pkw-Maut hat die EU-Kommission rechtliche Bedenken angemeldet. Daraufhin gehen wir nicht einfach national mit dem Kopf durch die Wand, sondern warten ab, wie der Europäische Gerichtshof entscheidet. Bei der Einlagensicherung sagen wir wohlüberlegt Nein. Und was das Asylrecht angeht: Hier haben wir europäische Regeln, insbesondere das sogenannte Dublin-Abkommen und auch das Schengen-Abkommen, die davon leben, dass die EU-Außengrenzen geschützt sind. Natürlich ist der Druck der illegalen Migration auf die EU-Außengrenzen durch den Krieg in Syrien und die Lage in Libyen enorm gestiegen. Umso wichtiger ist es, dass wir nun alle Kräfte darauf verwenden, die EU-Außengrenzen wieder zu schützen und den betroffenen Ländern dabei zu helfen.
Merkel: Der gegenwärtige Zustand wird kein Dauerzustand sein. Alle Länder, die an der Freizügigkeit im Schengen-System teilhaben, haben ein Stück Souveränität abgegeben, indem sie die Kontrollen im Wesentlichen an die EU-Außengrenzen des Schengen-Raums verlegt haben. Diese Freizügigkeit im Verkehr von Menschen, Waren und Dienstleistungen wissen wir alle zu schätzen. Kein Land in Europa braucht sie so sehr wie Deutschland. Sie kann aber auf Dauer nur funktionieren, wenn an den EU-Außengrenzen wirkungsvoll kontrolliert wird. Diesen Zustand müssen wir wiederherstellen, und darauf arbeitet die Bundesregierung hin.
Merkel: Die Flüchtlinge müssen dort registriert werden. Die, die unseren Schutz benötigen, müssen dann fair und solidarisch in die einzelnen EU-Länder verteilt werden, wie wir es für ein Kontingent von 160 000 Flüchtlingen auch schon beschlossen haben. Und die, die kein Anrecht auf diesen Schutz haben, müssen in einem rechtsstaatlichen Verfahren wieder zurückgeschickt werden. Aber klar ist auch, dass es jede Mühe wert ist zu verhindern, dass Flüchtlinge von der Türkei aus oftmals auch unter Lebensgefahr für sich und ihre Kinder die Außengrenzen zur EU überqueren. Dieser illegalen Migration treten wir entgegen.
Merkel: Das wird miteinander präzise festzulegen sein und neben dem Schutz der EU-Außengrenzen dafür sorgen, dass die illegale Migration zurückgeht.
Merkel: Nein. Kontingente sind eine gemeinsame europäische Vereinbarung, keine einseitig von Deutschland festgelegte Obergrenze.
Merkel: Wir haben in Europa schon einiges erreicht. Binnen weniger Wochen haben wir mit der Türkei einen Aktionsplan verabredet, wonach die EU und die Türkei bei der Kontrolle der illegalen Migration enger zusammenarbeiten und die EU die Türkei finanziell dabei unterstützt, die Flüchtlinge in der Türkei besser zu betreuen und zu versorgen. Hinzu kommt unser Konzept der legalen Migration mit den schon beschriebenen Kontingenten. Hinter diesem Aktionsplan stehen alle 28 Mitgliedstaaten der EU. Sie sehen: Es ist nicht leicht, aber wir kommen voran.
Merkel: Ich weiß aus regelmäßigen Gesprächen mit Landräten, Kommunalpolitikern und den Hilfsorganisationen sehr gut, welche Belastung viele Menschen und viele Regionen tragen. Wenn ich jedoch als Bundeskanzlerin heute eine Grenze definiere und diese Grenze wird morgen nicht eingehalten, weil eben doch mehr kommen, dann habe ich mein Versprechen nicht gehalten und die Probleme werden größer statt kleiner. Obergrenzen sind einseitig und statisch und erschweren alles, was wir erreichen möchten. Das klar zu sagen, ist für mich eine Frage von Redlichkeit und Glaubwürdigkeit.
Merkel: Von einem Kurswechsel zu sprechen, ist falsch, denn der eigentliche Einschnitt war unsere Entscheidung im vergangenen Sommer, den kurdischen Milizen im Irak Waffen gegen den IS zu liefern und diese auszubilden. Wir konnten nicht zusehen, wie brutal und menschenverachtend die IS-Terroristen immer weiter vorrückten. Sie errichten ein Schreckensregime in Teilen von Irak und Syrien und sie sind eine direkte Gefahr für uns alle in Europa. Nach den Anschlägen von Paris hat Frankreich uns um Beistand gebeten, weil diese Anschläge ein Angriff auf alle freiheitsliebenden Demokratien waren. Dies sind die Gründe, warum wir unseren militärischen Einsatz gegen den IS nun völkerrechtlich legitimiert vom Irak auch auf Syrien ausdehnen.
Merkel: Die internationale Allianz gegen den IS schließt Assad und seine Truppen nicht ein. Vergessen wir nicht, dass die Mehrzahl der Flüchtlinge, die zu uns gekommen sind, vor Assad geflohen ist. Er wirft nach wie vor Fassbomben auf sein eigenes Volk - eine Zukunft an der Spitze des Staates kann es für ihn nicht geben. Trotzdem müssen für eine politische Lösung des Konflikts alle Gruppen in Syrien miteinander sprechen.
Merkel: Auch die regelmäßigen Verlängerungen des Bundeswehreinsatzes in Afghanistan fallen in meine Zeit als Bundeskanzlerin. Das war über viele Jahre ein sehr harter Kampfeinsatz, in dem wir auch Bodentruppen gestellt haben. Das werden wir in Syrien nicht tun. Dennoch sehe ich die Bundeswehrmission dort in der Kontinuität unseres umsichtigen militärischen Engagements, das wo immer möglich in politische und diplomatische Bemühungen eingebettet ist.
Merkel: Wir haben spätestens in diesem Jahr lernen müssen, dass wir uns von den Entwicklungen um Europa herum nicht abkoppeln können. Sie finden nicht nur im Fernsehen statt, sondern haben Auswirkungen bis vor unsere Haustür. Der fürchterliche und schon viel zu lange Bürgerkrieg in Syrien ist dafür nur ein Beispiel. Nehmen Sie Libyen: ein zerfallender Staat, der zurzeit gar nicht in der Lage ist, die illegale Migration in Richtung Europa oder die Ausbreitung des IS zu bremsen.
Die Folgen spüren wir hautnah, und deshalb werden wir uns auch vor den Toren der EU stärker einbringen müssen, und zwar politisch und mit den Mitteln der Entwicklungszusammenarbeit. Aber wenn wir in Konflikten an Friedenslösungen mitwirken wollen, dann müssen wir wie jetzt als Mitglied der internationalen Allianz gegen den IS auch bereit sein, mit unseren Partnern militärisch so zu handeln, wie wir das beschlossen haben.
Merkel: Darüber werde ich, wie ich es schon oft gesagt habe, zum geeigneten Zeitpunkt nachdenken und entscheiden. Jetzt bin ich vollauf mit dem beschäftigt, was wir politisch zu bewältigen haben, um Deutschland eine gute Zukunft zu ermöglichen.
In Merkels Büro schaut Konrad Adenauer der Kanzlerin über die Schulter
Auch in unruhigen Zeiten achtet Angela Merkel aufs Detail. „Sollen wir die Kerzen brennen lassen“, fragt sie unseren Fotografen Georg Lopata und zeigt auf das Adventsgesteck, das den großen Tisch im Büro der Bundeskanzlerin schmückt. Kurz vor dem Parteitag der CDU in Karlsruhe ist die Stimmung in der Union zwar alles andere als vorweihnachtlich milde - eine besorgte Kanzlerin und Parteichefin aber sieht anders aus. Im Interview mit dem Chefredakteur der Augsburger Allgemeinen Walter Roller und dem Berlin-Korrespondenten dieser Redaktion, Rudi Wais, wirkt Angela Merkel entspannt und konzentriert zugleich, sie wägt ihre Worte mit Bedacht, als könne schon die schiere Ruhe, die sie ausstrahlt, alle Skeptiker besänftigen. In der Sache weicht sie keinen Zentimeter von ihrem Kurs ab, auch wenn sie ihr Mantra „Wir schaffen das“ während des Gesprächs nicht wiederholt. Sparsam in der Gestik, freundlich-konziliant im Ton und offenbar fest davon überzeugt, dass Deutschland nach der Finanzkrise nun auch die Flüchtlingskrise meistert: Diese Frau, so scheint es, ist mit sich im Reinen. Bei früheren Interviews hat sie schon einmal etwas unwirsch reagiert, wenn sie sich vom Klicken der Kamera gestört fühlte.
Diesmal lässt sie den Fotografen lächelnd machen – und von hinten schaut ihr Adenauer aus einem dunklen Rahmen über die Schulter. Text: rwa