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Würzburg
Leseranwalt: Warum "false balance" in Medizin-Berichten unverantwortlich ist
Nicht alle Erkenntnisse von Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern können gleichwertig veröffentlicht werden. Das würde sonst zu einer "falschen Ausgewogenheit" führen. Was darunter zu verstehen ist.
Eine Leserin kritisiert, dass Ungeimpfte in Meinungsbeiträgen herabgewürdigt würden. Das Schild auf unserem Symbolbild, aufgestellt von Impfgegnern und Kritikern der Corona-Maßnahmen, stand vor dem Dresdner Rathaus.
Foto: Sebastian Kahnert, dpa | Eine Leserin kritisiert, dass Ungeimpfte in Meinungsbeiträgen herabgewürdigt würden. Das Schild auf unserem Symbolbild, aufgestellt von Impfgegnern und Kritikern der Corona-Maßnahmen, stand vor dem Dresdner Rathaus.
Anton Sahlender
Anton Sahlender
 |  aktualisiert: 27.04.2023 12:14 Uhr

Sie sei täglich aufs Neue gespannt, was wieder den Ungeimpften vorgeworfen werde, schreibt mir sehr sachlich eine Leserin aus der Rhön. Dabei fordere die Etikette für Leserbriefe und Kommentierungen doch respektvollen Umgang und angemessenes Benehmen und schließe Beleidigungen aus. Meinungen sollten sich sachlich auf Artikel beziehen. Die Leserin fragt, ob solche Kommentar-Regelungen für Leserbriefe bzw. Leitartikel nicht mehr gelten würden.

Die Frau beklagt, was sie alles über Ungeimpfte gelesen habe. Davon gebe ich hier nur eine Auswahl wieder: Sie sind egoistisch, unsolidarisch, unbelehrbar, unaufgeklärt, Pandemie-Betreiber, unter ihrer Tyrannei leidet die Gesellschaft, sie haben ein gestörtes Geschichtsbewusstsein, zerstören Demokratie und Wirtschaft, schöpfen aus dubiosen Quellen, nehmen die Geimpften in Geiselhaft und sind in Parallelwelten unterwegs.

Werden ungeimpfte Menschen herabgewürdigt?

Die Rhönerin fragt, ob man Menschen mit anderer Meinung so herabwürdigen dürfe. Besser nicht, antworte ich und gebe das zum Nachdenken an die Redaktion weiter. Vielleicht war der Umgang mit Nichtgeimpften ja doch etwas zu hart?

Allerdings vermag ich nicht zu bewerten, inwieweit es sich in jedem aufgezählten Beispiel um eine Herabwürdigung handelt. Oft geht es ja in Kontroversen nicht um andere Meinungen, sondern um andere, vielleicht unrichtige Fakten. Dazu habe ich bereits 2017 festgehalten: "Falsche Fakten sollten auch in Nutzer-Kommentaren nicht verbreitet werden."

Der Kontext ist entscheidend 

Die leider von der Frau ohne erklärenden Kontext aufgelisteten Beispiele will ich folglich nicht im Einzelnen bewerten. Denn manche Wortwahl erklärt sich in laufenden Debatten auf mainpost.de, dort digital unter Pseudonym geäußert, auch als Erwiderung auf einen scharfen Kommentar. Eine Diskussionsführung, die auch kritisch gesehen wird.

Gut wäre es freilich, die Redaktion würde übertriebene Schärfe auch dort nicht erst aufkommen lassen. Denn überzeugen lässt sich dadurch niemand. Im Sinne eines zielführenden Diskurses in einem Medium ist die sachliche Auseinandersetzung. Schließlich soll selbst in heftigen Debatten keine Leserin und kein Leser verloren gehen. Denn das birgt nachweislich die Gefahr, dass die sich dann dauerhaft dubiosen Informationsanbietern zuwenden. 

Falsche Fakten sind keine andere Meinung

Journalistinnen und Journalisten selbst sollten mit ihren Kommentaren für vorbildliche Diskussionskultur stehen. Das heißt, harte Vorhaltungen müssen sie sehr gut begründen, sich sachlich auf die Gründe von Impfverweigerern beziehen und sie nicht als Personen herabwürdigen.

Trotzdem: Journalistisch wichtig und begründet sind natürlich deutliche Reaktionen auf falsche Fakten, denn die sind keine andere Meinung und sollten auf erklärenden Widerspruch stoßen.

Den Forschungsstand nicht verzerren

Die Frau aus der Rhön wünscht aber medial mehr Beachtung für Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler, meist nennt sie Kritiker der Corona-Impfung, die sich nach ihren Worten dem Mainstream entziehen würden.

Das Problem: Die Erkenntnisse einiger Außenseiter gleichwertig neben denen der überwiegenden Mehrzahl von Forscherinnen und Forschern zu verbreiten, würde ein falsches Gleichgewicht herstellen, im Journalismus als "false balance" (falsche Ausgewogenheit) bezeichnet. Das wäre mit journalistischer Verantwortung nicht zu vereinbaren. Würde es doch den medizinischen Forschungsstand in der Öffentlichkeit gefährlich verzerren und falsche Botschaften erzeugen. Die könnten zu gesundheitlichen Problemen beitragen. Der Mehrzahl von Epidemiologen und Virologen zu misstrauen, dazu habe ich jedenfalls keine Veranlassung und nicht die Kompetenz. Was wohl für viele Journalistinnen und Journalisten gilt.

Bei der "False Balance", so heißt es in einer Erklärung des Deutschlandfunks, wird einer Minderheitenmeinung so viel Raum gegeben, dass der falsche Eindruck entsteht, sie sei gleichwertig mit der Konsensmeinung. Was in der Politik gebräuchlich ist, kann gerade bei Wissenschaftsthemen gefährlich sein.

Gesprächsangebot an die kritische Leserin

Ich habe der Frau aus der Rhön ein Gespräch angeboten, das über gegensätzliche Haltungen hinweg einen Respekt zulässt, der gewiss auch allen anderen Kontroversen mit Impfkritikern dienlich ist. Die Kommunikation soll erhalten bleiben. Ich bin gespannt, ob die Frau es annehmen wird.

Anton Sahlender, Leseranwalt. Siehe auch Vereinigung der Medien-Ombudsleute e.V.

Frühere ähnliche Leseranwalt-Kolumnen:

2012: "Von zielführenden Kritiken der Leser zu stilvollen Entschuldigungen der Redaktion"

2019: "Auch Leugner haben das Wort"

2017: "Die Herausforderung: Vom Streit zum Dialog"

2017: "Eine Meinung ist nicht mit Beweismitteln auf Richtigkeit zu überprüfen"

 
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