
Der arme Matrose ist schon wieder trocken. Sollte er aber nicht sein, schließlich kommt er gerade aus dem Sturm, Gesicht und Haare müssten triefen. Wieder eilt Alica Keyser aus der Maske mit der Sprühflasche herbei. Kamera und Regie warten, bis der Matrose wieder nass genug ist. Dann geht es weiter. Roberto Ortiz singt den Matrosen für die gleichnamige Videoproduktion des Mainfranken Theaters. Hat ihn gesungen, vielmehr. Jetzt spielt er ihn. Die Musik, zuvor aufgenommen vom Philharmonischen Orchester unter der Leitung von Enrico Calesso, ist längst im Kasten. Jetzt kommen die bewegten Bilder dazu.

"Der arme Matrose" hätte im Januar über die Bühne gehen sollen. Als "szenisch musikalische Reise" basierend auf einer Kurzoper von Darius Milhaud (1892-1974), erweitert um Werke von Beethoven, Schubert und Schostakowitsch. Das hat aus sattsam bekannten Gründen nicht geklappt. Um endlich wieder eine pandemie-sichere Produktion präsentieren zu können, entstand die Idee, das Stück filmisch zu erzählen – nicht als abgefilmte Bühnenvorstellung, sondern im extrabreiten Cinemascope-Format, mit den Ausdrucksmitteln des Kinos und des Videoclips.
Die Tage sind lang, einen Mangel an Pausen allerdings muss niemand befürchten
Drehort ist die Theaterfabrik Blaue Halle in der Dürrbachau, Ausweichquartier, während das Stammhaus in der Stadt um- und ausgebaut wird. Die Tage sind lang, einen Mangel an Pausen allerdings muss niemand befürchten – beim Film ist immer wieder für eines der Gewerke Stillstand, vor allem für die Sängerinnen und Sänger. Operndirektor Berthold Warnecke zitiert Robert de Niro: "Bezahlt wirst du fürs Warten, das Schauspielen ist umsonst."

Und: Für alle beginnt der Tag mit einem Schnelltest im Testzentrum, einer zweistöckigen Konstruktion aus blauen Containern im hinteren Teil der riesigen Halle, durchgeführt von Dr. Martin Pauli, Arzt an der Würzburger Uniklinik und Darsteller in "Comedian Harmonists". Für den Fall, dass ein Schnelltest positiv ausfällt, hat Pauli zum Abgleich noch PCR-Tests dabei. Tatsächlich, so Warnecke, hat sich während des gesamten Projekts noch niemand mit Corona infiziert.

Masken tragen dennoch durchgehend alle. Nur die Darstellenden, also Tenor Roberto Ortiz, Sopran Silke Evers, Bariton Kosma Ranuer und Bass Igor Tsarkov, nehmen den Schutz ab, sobald sie vor die Kamera treten. Am Rande der Bühne, die für die Dreharbeiten an diesem Tag ein riesiger, leerer weißer Raum ist, steht deshalb ein "Maskennagelbrett" zur Aufbewahrung.
Kein Livegefühl, keine Rückmeldung vom Publikum, sondern sehr viel Detailarbeit
Das Warten ist nicht die einzige Abweichung vom gewohnten Opernbetrieb. Es gibt kein Livegefühl, keinen Flow, keine Rückmeldung vom Publikum. Sondern sehr viel Detailarbeit. Immer und immer wieder muss Roberto Ortiz für ein paar Sekunden Film die gleichen Schritte tun, die gleichen Gesten ausführen. Die Musik – für diese Szene das erste Lied aus Schuberts "Winterreise" zu eigenem Orchesterarrangement – kommt von der Festplatte.
Ortiz nimmt die Wiederholungen gelassen und geduldig. Er ist froh, dass er nach drei Monaten Stillstand endlich wieder arbeiten kann. "Ich bin glücklich und neugierig und lerne jeden Tag dazu", sagt er. "Gestern haben wir sieben Stunden für zwei Minuten gedreht. Und neulich einen Tag lang nur die Füße. Da musste ich dann versuchen, den ganzen Ausdruck da hinein zu legen."
"Der arme Matrose" ist dem Videoclip näher als dem klassischen Kinofilm
Anders als die großen Kino-Opern etwa von Franco Zeffirelli ist "Der arme Matrose" dem Videoclip näher als dem klassischen Film, sagt Operndirektor Warnecke. Das Stück funktioniere auf mehreren Realitäts-, Bedeutungs- und Bildebenen. "Das heißt, dass die Darstellenden nicht immer eins zu eins zur Musik agieren."

Das Team Tomo Sugao (Regie) und Paul Zoller (Bühne und Kostüme) hat die ursprüngliche Bühnenfassung in ein Drehbuch umgewandelt, der Würzburger Filmkünstler Steffen Boseckert (mindcore productions) setzt es mit der Kamera um. Die Handlung ist düster und tragisch: Der Matrose, der 15 Jahre lang verschollen war, kehrt, schwer gezeichnet von seinen Strapazen aber im Besitz einer kostbaren Perlenkette, zu seiner Frau zurück. Er gibt sich nicht zu erkennen und bittet inkognito um Unterschlupf. Nachts erschlägt die Frau den vorgeblichen Fremden, um mit der Kette ihren Mann zu retten.
Die weiße Bühne wirkt wie ein Labor, die Figuren werden zu Versuchstieren
Auch für Regisseur Tomo Sugao, in Würzburg bekannt für seine Inszenierungen von Giacomo Meyerbeers "Hugenotten", John Adams' "Nixon in China" und Richard Wagners "Götterdämmerung", ist es das erste Filmprojekt. Er fand das Umdenken von der Bühne auf die Leinwand "total aufregend": "Ich muss nicht darauf achten, dass die Sänger immer nach vorne singen. Das macht mich freier. Und: Es ist faszinierend, wie viele Möglichkeiten es gibt, beim Schnitt noch einmal Perspektive und Erzählweise zu variieren. Vorausgesetzt, man hat genügend Material gedreht."
Das Stück ist für ihn eine Auseinandersetzung mit dem Tod, "über den immer gesprochen wird". Vor allem aber mit der Wahrnehmung von Realität. Sugao sieht die weiße Bühne, in die Paul Zoller eine enge Bar gesetzt hat, als Labor, in dem die Figuren fast wie Versuchstiere agieren. "Jean Cocteau, der den Text geschrieben hat, lässt offen, ob die Frau nur vorgibt, ihren Mann nicht erkannt zu haben", sagt Tomo Sugao. "Und genau darin liegt der Reiz. Es geht darum, dass jede Figur ihre eigene Wahrheit hat, und dass diese Wahrheiten sozusagen aneinander vorbei bestehen."
Oper als Film: "Der arme Matrose", szenisch-musikalische Reise mit Musik von Darius Milhaud, Ludwig van Beethoven, Franz Schubert und Dmitri Schostakowitsch. Etwa 70 Minuten. Vom 14. bis 16. Mai als Video-on-Demand kostenlos unter www.mainfrankentheater.de/matrose