
Viel näher kann man dem Meister nicht kommen: Torre del Lago in der nördlichen Toskana. Der Rückszugs- und Inspirationsort Giacomo Puccinis (1858-1924), des wichtigsten Säulenheiligen der italienischen Oper neben Verdi. Seit 1930 finden hier, immer wieder mal unterbrochen durch die Ereignisse der Weltgeschichte, Freilicht-Festspiele zu Ehren des Komponisten statt. In Torre del Lago haben Beniamino Gigli, Giuseppe Di Stefano, Plácido Domingo, José Carreras, Katia Ricciarelli und vor allem Luciano Pavarotti gesungen. Hier haben Chefs vom Format eines Riccardo Chailly oder Giuseppe Sinopoli dirigiert.
Das muss man wissen, um den Zauber dieses Ortes zu verstehen. Und um zu begreifen, was es bedeutet, dass in diesem Sommer, bei der 66. Ausgabe des Festival Puccini, Enrico Calesso, Generalmusikdirektor am Mainfranken Theater, sein Debüt gegeben hat. Mit "Madama Butterfly" - und umjubelt.
Die Londoner "Times" blickte neidvoll auf Torre und den italienischen Festivalsommer
Die ganz großen Stimmen treten hier zwar nicht (mehr) auf. Aber nach Jahren, in denen das Festival irgendwie den Anschluss an die Weltspitze verloren hatte, geht es unter neuer Leitung künstlerisch aufwärts. Calessos "Butterfly" jedenfalls erregte Aufsehen – national und international. Italienische Medien feierten den Gast aus Würzburg für die Präzision zwischen Bühne und Graben, den Farbenreichtum der Klänge, die Energie des Ausdrucks. Uwe Friedrich vom Deutschlandfunk lobte: "Das gehört zum besten Puccini, den ich je gehört habe."

Es scheint, als habe Torre del Lago sich mit dieser Produktion ein gutes Stück in Richtung erste Liga gespielt. Die Londoner "Times" blickte neidvoll auf Torre und den auch sonst recht wuseligen italienischen Festivalsommer: "Was machen die Italiener richtig?" Während in Großbritannien nach dem gescheiterten Experiment in Sachen Herdenimmunität kulturell kaum etwas geht, ist Italien fest entschlossen, mit Kultur gegen das Corona-Trauma anzugehen – unter Einhaltung größtmöglicher Vorsichtsmaßnahmen, aber mit spürbarer Erleichterung und Begeisterung.
Hierher kam Puccini, um zu jagen, schnelle Autos zu fahren und zu komponieren
Torre del Lago Puccini, wie es heute heißt, ist ein kleiner Ort am Mittelmeer, der nahtlos ins benachbarte Viareggio übergeht, bekannt für seinen Karneval. Hier wie dort gibt es kilometerlange Sandstrände, in Torre aber diesen See, den größten der Toscana: den Lago di Massaciuccoli. Das braungraue Binnengewässer, dessen Ränder fast ganz aus undurchdringlichem Schilf bestehen, ist Teil eines Naturparks.
Auf der Seite von Torre gibt es eine hübsche Uferpromenade mit Lokalen, Puccini-Statue, Konzert-Pavillon und ein wenig abseits das wuchtige Freilichttheater. Und die Villa Puccini, heute ein Museum. Hierher hat sich Giacomo Puccini ab 1900 zurückgezogen, wenn die ständigen Reisen in die Opernmetropolen dies- und jenseits der Atlantiks zu anstrengend wurden. Hierher kam er, um zu jagen, schnelle Autos zu fahren, hier hat er einige seiner wichtigsten Opern komponiert. Und hier, im Familienmausoleum, sind seine sterblichen Überreste beigesetzt.
Puccini hatte sich in seinen letzten Tagen selbst gewünscht, einmal eine seiner Opern unter freiem Himmel am See zu hören. Nach seinem Tod setzten zwei Freunde die Idee um. Zunächst spielte man auf improvisierten Bühnen, später vor knarzender Holztribüne. Seit 2008 gibt es das Gran Teatro all’aperto Giacomo Puccini, eine riesige Freilichtarena aus Beton mit 3400 Plätzen, deren Inneres eine Cafeteria mit dem Charme eines Flughafenterminals beherbergt.
Schritt für Schritt arbeitet sich ein traumatisiertes Italien zurück in die kulturelle Normalität
Zur Eröffnung der Arena hatte Elke Heidenreich in der F.A.Z. geschrieben: "Es wird mit tiefem Ernst musiziert, das Bühnengeschehen ist manchmal bombastisch, aber nie kitschig. Die Massen sind bestens unterhalten und bekommen doch Qualität. Mehr kann ein solches Festival kaum leisten."
In normalen Jahren kommen 50 000 Besucher nach Torre. Heuer waren es coronabedingt viel, viel weniger: Nur vier Opernvorstellungen waren angesetzt, je zweimal "Tosca" und "Butterfly". Die 3400 Plätze waren mittels Klebeband auf 1000 reduziert. "Wir wussten lange nicht, ob wir überhaupt würden spielen können", sagt Alessandra Delle Fave, die Pressechefin. "Und dann wussten wir nicht, ob die Leute kommen würden."
Die Leute kamen, die Vorstellungen waren ausverkauft.

Auch Enrico Calesso, dem man schon Monate vorher die Vorfreude auf Torre del Lago angemerkt hatte, musste lange um sein Debüt bangen. Und dann nur zwei Vorstellungen vor einem Bruchteil der Zuschauer. Andererseits: Selten wohl konnte sich das kulturelle Italien der Aufmerksamkeit der Welt so sicher sein, wie in diesem Corona-Jahr. Monatelang hatten in Italien die härtesten Auflagen Europas gegolten, nun arbeitet sich das Land Schritt um Schritt zurück in die Normalität.
In Italien wird deutlich kürzer, dafür deutlich intensiver geprobt
In Parma hatte Ende Juni eine erste szenische Produktion stattgefunden – "Rigoletto" mit Federico Longhi, der auch am Mainfranken Theater in Würzburg die Titelrolle der Verdi-Oper gesungen hatte. Seither wagen immer mehr Stätten den Wiedereinstieg. Zunächst im Freien Neapel (mit Jonas Kaufmann), die Arena in Verona oder das Kolosseum in Rom. Nun wollen unter anderem Mailand und Venedig auch drinnen wieder spielen.

Zur "Butterfly"-Premiere waren einige Weggefährten Calessos gekommen: Federico Longhi, die Mezzosopranistin Laura Brioli, 2015 in Würzburg die Carmen, und der Tenor Paul McNamarra, 2019 der Siegfried in der Würzburger "Götterdämmerung". In der Generalprobe hatte es noch ein wenig geknirscht - auch, weil in Italien deutlich kürzer, dafür aber intensiver geprobt wird. Der erste komplette Durchlauf findet erst in der Generalprobe statt – mit allen Unfällen, die dann halt passieren. Das fein ziselierte Probensystem in Deutschland mit allerhand Sicherheitsstufen kommt italienischen Solisten oft übertrieben vor.
Die Freiluftarena in Torre ist nicht leicht zu bespielen, das Orchester sitzt nicht nur wegen der Corona-Abstände sehr weit nach links und rechts verteilt. In der "Tosca"-Premiere ein paar Tage zuvor hatte das zu deutlichen Unschärfen geführt – trotz oder gerade wegen der raumgreifenden Zeichengebung von Dirigent Alberto Veronesi.

Enrico Calesso hingegen setzt auf Konzentration und Kontakt. Und bittet bis zuletzt um Rückmeldung von der Zuschauertribüne, am liebsten per SMS noch in der Pause der Premiere selbst. Passt die Balance? Wie funktioniert die elektronische Verstärkung? Sind die Einsätze präzise? Derlei Sorgfalt kommt auch im Orchester an, das kann man hören. Nicht nur während der Oper, die zu einem Fest der feinen Klänge wird. Sondern schon, wenn Calesso ans Pult tritt. Dann trampeln die Musikerinnen und Musiker ihre Zuneigung lautstark in die Nacht.
Ob er nicht zurück nach Italien kommen will, wird Calesso in Zukunft öfter gefragt werden
Nach der Premiere dauert es fast eine Dreiviertelstunde, bis der Maestro, wie ihn hier alle nennen, aus den Katakomben kommt. Wo er geht, ist er umlagert von Gratulanten, Fans, Kollegen und Offiziellen. Freunde und Familie müssen warten. Als der Würzburger Generalmusikdirektor dann, weit nach Mitternacht, doch noch auf ein winziges Becherchen Prosecco zur kleinen Clique stößt, die in der Freiluftbar am Seeufer ausharrt, ist er eigentlich schon wieder auf dem Sprung. Termin mit dem Intendanten.

Schon seit einiger Zeit wird Enrico Calesso, der aus Treviso in Venetien stammt, in Interviews mit italienischen Medien gefragt, ob er nicht eine Stelle in der alten Heimat antreten wolle. Die Frage wird nun sicher häufiger kommen. Calesso antwortet immer mit Plädoyers für das deutsche Stadttheatersystem - und Liebeserklärungen an die Stadt Würzburg.
Gerade hat er in Würzburg seinen Vertrag bis 2025 verlängert. Calesso schätzt Kontinuität und Nachhaltigkeit, das sagt er immer wieder. Das Niveau, auf dem das Würzburger Philharmonische Orchester heute spielt, gibt ihm Recht.
Zwischen den "Butterfly"-Vorstellungen übrigens ist er nach Treviso gefahren, um die hölzernen Türen seines Elternhauses abzuschleifen und neu zu lackieren: "Endlich mal etwas Handfestes." Jetzt beginnen auch schon die Proben für die erste Produktion der neuen Spielzeit in Würzbug, in der Blauen Halle. Barock statt Hochromantik: das Pasticcio "Garten der Lüste", basierend auf Händels Oper "Rinaldo".
Ein bekannter italienischer Kritiker indes schrieb, es wäre ein Verbrechen, Enrico Calesso im nächsten Jahr nicht in Torre del Lago dabei zu haben. Da trifft es sich gut, dass Calesso vor Corona eigentlich für "La Bohème" engagiert war, die Produktion unter seiner Leitung aber auf 2021 verschoben wurde. 2021 wird er also wieder dabei sein am See. Wie gesagt: Näher als hier am See kann man dem Meister nicht kommen.
Die nächste Premiere in Würzburg: "Garten der Lüste", basierend auf Händels "Rinaldo". Samstag, 10. Oktober, 17 und 20 Uhr, Theaterfabrik Blaue Halle. Karten unter Tel. (0931) 3908-124, karten@mainfrankentheater.de