Eigentlich müsste man dieses Stück gleich zweimal hintereinander anschauen. Oder vielleicht dreimal. So viele Gedanken, Eindrücke, Ahnungen, Assoziationen. "Von der Menschlichkeit in finsteren Zeiten": Die Dankesrede von Hannah Arendt (1906-1975) zur Verleihung des Hamburger Lessing-Preises 1959, inszeniert, collagiert, dramatisiert, visualisiert und kontrastiert vom Then-Quartett mit Kai Christian Moritz, Philipp Reinheimer, Bernhard Stengele und Ulrich Pakusch, der Mezzosopranistin Lena Spohn und der Künstlerin Marianne Hollenstein.
Es war die vorerst letzte literarisch-musikalische Performance des Then-Quartetts in der Reihe "Einfach.Mensch.Sein" in Kooperation mit der Domschule, denn Bernhard Stengele, ehemals Schauspieldirektor am Mainfranken Theater, wird grüner Umweltminister in Thüringen. Sollte die Essenz dieses vielschichtigen Abends im Archiv des Bistums in Würzburg als Statement für Stengeles Amtsantritt gemeint sein, die Politik könnte davon nur profitieren.
Über die Unmöglichkeit, Vergangenheit zu "bewältigen"
Der Text ist weniger eine Dankesrede als vielmehr soziologische, literarische und philosophische Vorlesung. Über den Namensgeber des Preises, den Aufklärer Gotthold Ephraim Lessing (1729-1781): "In 200 Jahren hat sich manches geändert, weniges zum besseren." Über Hannah Arendts Definition von Welt und ihre Vorstellung, wie der Mensch damit umgehen solle. Über Arendts Jüdischsein und die Frage der "Bewältigung" von Vergangenheit, vielmehr deren Unmöglichkeit: "Sofern es überhaupt ein 'Bewältigen' der Vergangenheit gibt, besteht es in dem Nacherzählen dessen, was sich ereignet hat; aber auch dies Nacherzählen, das Geschichte formt, löst keine Probleme und beschwichtigt kein Leiden, es bewältigt nichts endgültig."
Das alles vorgetragen erst 14 Jahre nach Ende des NS-Staats und heute leider aktueller denn je. Der Abend beginnt draußen, hinter dem Archivgebäude, an der Gedenkstätte am ehemaligen Standort der Synagoge. Hier das unselige Wort vom "Vogelschiss" der deutschen Geschichte zu hören, ist mehr als gespenstisch. Ins Haus zurückgeleitet werden die zweimal gut 100 Besucherinnen und Besucher der beiden ausverkauften Vorstellungen von Klängen des Kaddisch, des jüdischen Heilungsgebets, gesungen von Lena Spohn.
Drinnen dann mischen sich Passagen von Lessing (etwa die Ringparabel), Brecht ("Wirklich, ich lebe in finsteren Zeiten!") und eben Arendt mit Kunstliedern oder Schuberts "Ständchen", rasant vorgetragen von allen und knackig am Klavier begleitet von Ulrich Packusch. Es entsteht dieser typische Effekt, wann immer deutsche Kulturgeschichte mit deutscher Barbarei konfrontiert wird: ein unauflöslicher Konflikt zwischen geistigem Reichtum und maximaler Verrohung. Selbst Hannah Arendt, vor den Nazis ins Exil geflohen, hat Mühe, das zusammenzubringen: "Wer wäre nicht versucht gewesen, das unter anderem auch unerträglich dumme Geschwätz der Nazis einfach zu überhören?"
Hannah Arendt entwickelt die Idee einer gemeinsamen Suche nach der Wahrheit
Die Welt ist für Hannah Arendt das, was als "Zwischenraum zwischen den Menschen entsteht". Wie aber diese Welt gestalten? Innerhalb verfolgter Gruppen entstehe zwangsläufig eine Art Brüderlichkeit. Und eine Menschlichkeit, zu der die Verfolgten sonst möglicherweise nicht fähig wären. Aber: "Die Menschlichkeit der Erniedrigten und Beleidigten hat die Stunde der Befreiung noch niemals auch nur um eine Minute überlebt. Das heißt nicht, dass sie nichts sei, sie macht in der Tat die Erniedrigung tragbar; aber es heißt, dass sie politisch schlechterdings irrelevant ist."
Hannah Arendt entwickelt stattdessen - wiederum auf der Basis von Lessing, aber im Gegensatz zur Idee der Brüderlichkeit - die Vorstellung einer Freundschaft zwischen den Menschen, angelehnt auch an die Idee des klassischen Griechenland, dass erst das dauernde Gespräch zwischen den Bürgern die Polis bildet. Eine gemeinsame Suche nach der Wahrheit, immer im Bewusstsein, dass diese Wahrheit nichts Absolutes ist: "Wahrheit ist lebendig und hat daher ein lebendig wechselndes Gesicht."
Die Ausgangsbasis für eine solche Entwicklung könnte der heutigen allerdings nicht ähnlicher, will sagen: ungünstiger sein. "Heute begegnen uns kaum noch Leute, die die Wahrheit zu haben glauben; stattdessen sind wir ständig mit solchen konfrontiert, die überzeugt sind, recht zu haben."