
Als Paul Reichart am 10. November 1977 für eine Stelle bei den Zweiten Geigen im Orchester des Stadttheaters Würzburg vorspielte, war er 22. Da war ein kleiner Junge namens Enrico Calesso in Treviso in Norditalien gerade drei Jahre alt geworden. Heute ist Calesso Generalmusikdirektor in Würzburg an dem Haus, das seit 1999 Mainfranken Theater heißt. Und Paul Reichart ist im Ruhestand – nach 44 Jahren Dienst.
Elf davon erlebte der Geiger unter der Leitung von Enrico Calesso, der im Jahr 2000 als Erster Kapellmeister nach Würzburg kam und ein Jahr später Generalmusikdirektor wurde. Sieben Intendanten und sieben Generalmusikdirektoren hat Paul Reichart kommen und gehen sehen. Cholerische und kollegiale, unsichere und herrische, zugängliche und reservierte. Er erlebte Dirigenten, die Musiker anraunzten, wenn sie einen Fehler machten. Und andere, die in der Lage sind, sich zu entschuldigen, wenn sie selbst einen machen. "Das kann nicht jeder", sagt Reichart. Calesso könne es: "Er ist ein Glücksfall für das Orchester."
Als Paul Reichart anfing, wurde in Anzug und Krawatte geprobt
Damals, 1977, saß Paul Reichart schon vier Tage nach dem Vorspiel in seiner ersten Probe: "Freischütz". Er habe schon viel sinfonische Erfahrung gehabt, aber noch nie Oper gespielt: "Also habe ich mir erstmal Knaurs Opernführer gekauft, damit ich wusste, was in den Stücken überhaupt passiert." Und der junge Geiger kaufte sich eine Krawatte. 1977 kam man noch in förmlicher Kleidung zur Probe, die Herren trugen Anzug.
Paul Reichart heißt laut Pass eigentlich Pavel. Er stammt aus Horšovský Týn (Bischofteinitz) in Westböhmen, dem Sudetenland. Sein Vater war Tscheche, die Mutter Deutsche. Paul wuchs zweisprachig auf. Da der Vater nicht Mitglied der kommunistischen Partei war, wurde die Lage nach der Zerschlagung des Prager Frühlings für die Familie immer schwieriger. 1970 siedelten die Reichharts nach Nürnberg über.

Paul hatte mit acht Jahren an der Staatlichen Musikschule in Bischofteinitz angefangen, Geige zu lernen. In Nürnberg wurde er Jungstudent am Konservatorium. Seine Lehrer: Oliver Colbentson, Konzertmeister der Nürnberger Symphoniker, und Willy Horvàth, Primarius des Horvàth-Quartetts.
Würzburg war Reicharts erste feste Stelle - und sie sollte seine einzige bleiben. Nur einmal habe er einen Wechsel erwogen und in Hannover vorgespielt, erzählt er. "Gottseidank haben die mich nicht genommen. Ich fühle mich in Franken einfach am wohlsten." Er half in vielen anderen Orchestern aus, unterrichtete, machte mit Freunden Kammermusik. Und blieb dem Philharmonischen Orchester treu, das so etwas wie seine Familie wurde: "Du verbringst mit den Kollegen viel mehr Zeit als etwa mit einer Partnerin."
Auch die soundsovielte "Kleine Nachtmusik" spielt Paul Reichart mit Genuss
Dass das nicht immer ohne Spannungen abgeht, gibt er gerne zu. Aber wer erlebt hat, wie herzlich der Geiger nach seinem letzten Konzert Mitte Juli vom Philharmonischen Orchester verabschiedet wurde, der weiß mit Sicherheit, dass Paul Reichart immer zu den ausgleichenden, heiteren, freundlichen Kräften gehörte. Sara Birringer, stellvertretende Stimmführerin der Zweiten Geigen, erzählte da, an ihn gewandt: "Wenn an einem Operettenabend andere Kollegen in der Gruppe auch mal mit den Augen rollten wegen der vielen Nachschläge, kam von Dir ein aufmunterndes ,Macht Spaß, gell?'"
Schattenseiten des Berufs? Dass er von körperlichen Beschwerden verschont blieb – anders als Kollegen, die früher aufhören mussten, weil Ohren, Wirbelsäule oder Hände nicht mehr mitmachten –, vermerkt der 66-Jährige mit großer Dankbarkeit. Und dass er auch der soundsovielten "Kleinen Nachtmusik" nie überdrüssig wurde, versichert er glaubhaft: "Von Mozart kann man einfach nicht genug bekommen. Wenn man es dann spielt, ist es immer wieder wunderbar. Ich kann nichts dafür, ich genieße es einfach."

Mindestens 100 verschiedene Opern hat er gespielt, am häufigsten Mozarts "Zauberflöte", 40 Operetten, 20 Musicals, alle gängigen Sinfonien von Haydn bis Mahler. Zu schaffen gemacht hätten ihm höchstens manche zeitgenössischen Werke - unglaublich schwer zu spielen und doch nur Pein für die Ohren. Ungezählt viele prominente Solisten hat Paul Reichart begleitet, von Arthur Grumiaux bis Tabea Zimmermann und Augustin Hadelich. Und er hat erlebt, wie in Würzburg die Karrieren heutiger Stars wie Waltraud Meier, Diana Damrau oder Christian Gerhaher begannen.
Vor allem hat der Geiger mit den Kolleginnen und Kollegen gebangt, als 2001 die Schließung des Theaters im Raum stand: "OB Jürgen Weber hatte schon Berechnungen in Auftrag gegeben, was die Abwicklung kosten würde. Das hat uns einige schlaflose Nächte bereitet." Lange habe man sie damals in der Unsicherheit zappeln lassen, blickt der 66-Jährige zurück: "Das war sehr unschön, wie die mit uns umgegangen sind."
Wenn sie dann im Orchester eine Aushilfe brauchen, steht er bereit
Vieles habe sich verändert in den Jahrzehnten: Der Umgang ist weit weniger autoritär als früher, im Orchester sitzen inzwischen mehr Frauen als Männer. Damals, als er anfing in Würzburg, gab es im ganzen Orchester gerade mal vier Musikerinnen. Und vom Theater, 1977 fast noch ein Neubau, auf dessen Modernität der junge Geiger stolz war, stehen nur noch ein paar Mauern. Ein komisches Gefühl, sagt Paul Reichart.
Und jetzt? Wirklich Ruhestand? Der 66-Jähre lächelt fast entschuldigend. Erst einmal will der Musiker die Zeit genießen. Radfahren am Bodensee. Verwandte in Tschechien besuchen. Duette mit seinem Freund Albert Steiner spielen, dem 76-jährigen Geigenbaumeister. Der, erzählt er, habe seine geliebte böhmische Geige nach einem üblen Sturz so gut repariert, dass sie heute besser klinge als vorher.
Wenn sie im Philharmonischen Orchester Würzburg eine Aushilfe bei den zweiten Geigen brauchen, wird Paul Reichart bereit stehen. Egal, was gespielt wird. Und garantiert ohne Augenrollen, sondern mit unverwüstlicher Liebe zur Musik.