„Festkörperphysik – viele können sich unter diesem Begriff zunächst nichts Konkretes vorstellen“, weiß Professor Ralph Claessen, der an der Universität Würzburg den Lehrstuhl für Experimentelle Physik IV innehat. Und er findet das erstaunlich. Denn dieses Forschungsfeld ist eines der größten in der Physik, sowohl in wissenschaftlicher als auch in volkswirtschaftlicher Hinsicht.
Eine Aufgabe von Festkörperphysiker/-innen ist es, quantenphysikalische Vorgänge in Materialien, die auch in der Natur vorkommen können, zu analysieren und nutzbar zu machen. „Damit schaffen wir die Basis für neue Materialien, die in zukünftigen Technologien verwendet werden können“, so der Forscher.
Ein Beispiel dafür sind Computerchips, die in allen modernen elektronischen Geräten wie Smartphones und Laptops arbeiten. Diese basieren auf Silizium und müssen extrem präzise strukturiert sein – im Größenbereich von wenigen Atomlagen. „Wir erforschen die Grundlagen solcher Stoffe und ihrer Eigenschaften. Daraus gewonnene Erkenntnisse können in zukünftige Technologien, beispielsweise in den Bereichen der Datenverarbeitung oder Sensorik eingesetzt werden.“
Werkstoffe aus dem Atombaukasten
Neben der Analyse stellen Festkörperphysiker/-innen bestimmte Materialien auch selbst her. „Die künstlichen Materialien setzen wir“, so Professor Claessen, „wie in einem Baukasten – Atom für Atom – selbst zusammen. Damit schaffen wir Werkstoffe mit Eigenschaften, die wir in der Natur so nicht finden oder kontrollieren können.“ Ein Beispiel, das der Wissenschaftler nennt, ist Stahl. Längst handelt es sich dabei um ein Hightech-Produkt: So werden im Herstellungsprozess Elemente zugesetzt, die das atomare Kristallgitter des Stahls beeinflussen. Dadurch können gewünschte Merkmale, wie Biegsamkeit oder Festigkeit, exakt festgelegt werden. Auch ein scheinbar alltägliches Material wie Glas kann durch modifizierte Elementverbindungen zusätzliche Eigenschaften, wie thermische Leitfähigkeit oder steuerbare Lichtdurchlässigkeit, erhalten.
Mit Röntgenstrahlen den Dingen auf den Grund gehen
Wie für Mediziner sind Röntgenstrahlen auch für Festkörperphysiker/-innen unverzichtbar: „Eines unserer Standardverfahren zur Materialcharakterisierung ist die Röntgenbeugung“, erläutert Professor Claessen. Damit können die Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler Eigenschaften und Qualitäten von Materialien anhand ihrer Nano-Kristallstrukturen analysieren.
Darüber hinaus verwenden die Forscher die Methode der Röntgen-Spektroskopie. Diese basiert auf Wechselwirkungen von Licht und Materie. „Wenn wir einen Gegenstand mit energiereichem Licht, wie etwa Röntgenstrahlen, beschießen, lösen sich Elektronen aus dem Material heraus“, so der Forscher. Die Messung von Austrittsrichtung und Energiezustand dieser Elektronen gibt wichtige Aufschlüsse über die chemische Beschaffenheit des untersuchten Materials. Zusätzlich kann man dadurch ermitteln, warum ein Material bestimmte Merkmale, wie Magnetismus oder Leitfähigkeit, aufweist.
Grundsätzlich neu ist das Verfahren der Röntgen-Spektroskopie nicht: Bereits kurz nach der Entdeckung der Röntgenstrahlen nutzte man sie zur zerstörungsfreien chemischen Analyse von Werkstoffen. Die Entwicklung von großen kreisförmigen Beschleunigeranlagen in den 1960er Jahren, und die Nutzung der darin entstehenden hochintensiven Synchrotron-Röntgenstrahlung, haben die Möglichkeiten der Materialanalyse allerdings enorm erweitert.
Große Laser für kleinste Details
„In Norddeutschland, auf der Grenze zwischen Hamburg und Schleswig-Holstein, existiert mit dem über drei Kilometern langen Elektronenlaser XFEL seit Kurzem die stärkste, menschengemachte Röntgenstrahlungsquelle der Welt“, so der Physiker. „Auch wir nutzen Großanlagen wie den XFEL für unsere Forschungen, denn damit können wir kleinste Vorgänge, wie zum Beispiel chemische Reaktionen, in Echtzeit betrachten oder auch atomare Details von Viren erkennen.“
Von diesen Experimenten profitieren nicht nur die Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler aus dem Fachgebiet der Festkörperphysik. „Viele dieser Experimente setzen hochpräzise Röntgen-Detektoren voraus, die wir teilweise selbst entwickeln“, erläutert Professor Claessen. Diese sind auch für die Medizintechnik interessant, da sich mit ihnen die Strahlungsintensitäten bei Untersuchungen mit Röntgenstrahlen verringern lassen.
An der Schwelle zum Quantenzeitalter
Ein großes Forschungsgebiet der Festkörperphysiker/-innen, auf dem Röntgenstrahlen verwendet werden, sind Quantenmaterialien. Dabei handelt es sich um Stoffe mit ungewöhnlichen Eigenschaften, wie supraleitende Materialien, die auf dem Prinzip der physikalischen Quantentheorie basieren.
Ihre Erforschung hat in den letzten Jahren große Fortschritte gemacht. In der Computertechnik könnten Quantenverfahren vielleicht die heute gängigen binären Rechenmethoden ablösen oder für bestimmte Aufgabenstellungen erweitern. „Die Herstellung von Stoffen, die diese Eigenschaften aufweisen können, ist allerdings hochgradig komplex“, so Professor Claessen. „Denn sie sollen nicht nur die gestellte Aufgabe erfüllen, sondern auch langlebig sein und sich unter einigermaßen normalen Bedingungen handhaben lassen.“
Das ist einer der Gründe, warum von der Entdeckung solch grundlegender Eigenschaften und Methoden bis zu ihrer konkreten Nutzung lange Zeiträume vergehen können. Geräte wie Laser oder Silizium-Computerchips gehen auf Forschungen zurück, die vor über 50 Jahren begonnen wurden, ihre Entwicklung war mitunter von Rückschlägen und Umwegen begleitet. Daher lässt sich heute noch nicht abschätzen, ob und in welcher Form Quantentechnologien eines Tages alltagstauglich werden.
Wie sich Techniken entwickeln und dann verwendet werden, lässt sich heute nicht immer präzise vorhersagen. Eines ist allerdings sicher: Röntgenstrahlen bleiben dank ihrer langen Tradition in den Wissenschaften auch bei der Suche nach zukünftigen Technologien ein unverzichtbares Hilfsmittel.
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