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SIMBACH
Unwetter: Wenn der Nachbar zum Helden wird
Am Tag nach dem Unwetter: In Niederbayern sitzt der Schock bei den Menschen tief. Während die einen anfangen, den knöcheltiefen Schlamm aus ihren Häusern zu schaufeln, herrscht in Simbach am Inn immer noch Katastrophenstimmung.
Überschwemmungen in Niederbayern       -  Simbach am Inn aus der Luft: Der kleine Simbach, der durch die Stadt fließt, ist in Kürze von einem halben Meter auf mehr als fünf Meter angeschwollen.
Foto: Tobias Hase, dpa | Simbach am Inn aus der Luft: Der kleine Simbach, der durch die Stadt fließt, ist in Kürze von einem halben Meter auf mehr als fünf Meter angeschwollen.
Von unserem Mitarbeiter Bastian Hörmann
 |  aktualisiert: 07.11.2019 22:45 Uhr
In ihrer knielangen schwarzen Plastikregenjacke steht Manuela Haslinger im Dämmerlicht vor einem Bach, der keiner ist: Dort, wo sie ausharrt, führt normalerweise eine Straße durch Triftern. Doch normal ist seit Mittwochmittag nichts mehr in der niederbayerischen Hügellandschaft zwischen Simbach am Inn und Pfarrkirchen. Ein enormes Gewitter ging über der Region nieder, überflutete ganze Orte, riss alles mit sich.

Die Tante von Haslingers Ehemann ist von den Wassermassen in ihrer Erdgeschosswohnung eingeschlossen. Wie es ihr geht, weiß die 52-Jährige da noch nicht. Mantraartig wiederholt sie: „Aber der Bürgermeister hat gesagt, dass er sie gesehen hat. Es geht ihr bestimmt gut.“ In der Luft hängt unausgesprochen eine schreckliche Alternative. Deshalb steht Haslinger seit Mittag da und wartet. Die Feuerwehr habe ihr gesagt, niemand hätte sich aus dem Haus gemeldet, als man vorbeifuhr. Endlich kommen zwei junge Männer in rot-blauen Neoprenanzügen der Wasserwacht, auf dem Kopf Stirnlampen, ohne deren Licht schon bald nichts mehr erkennbar ist. „In welchem Haus ist sie denn?“, fragen sie und stapfen hinein in das schlammbraune Wasser.

Ab jetzt vergehen die Minuten noch langsamer. Es riecht nach ausgelaufenem Heizöl. „Wo bleiben sie denn? Das Haus ist doch gleich dort vorne.“

Endlich, als es schon fast dunkel ist, nähern sich drei helle Punkte: Am Arm eines Helfers watet Luise Schneller vorsichtig durch das knietiefe Wasser. Wie in Zeitlupe geht ihr Haslinger entgegen „Ja Luise, den ganzen Tag wart ich schon.“ Der Nachbar der 79-Jährigen hatte sie aus der Wohnung befreit und mit ins Obergeschoss genommen. „Die Türen gingen wegen des Wassers nicht auf, deshalb bin ich durchs Fenster geklettert.“ Auch wenn die Wohnung der alten Frau wie so viele andere in Triftern nun verwüstet ist, diese Geschichte ist noch mal gut ausgegangen. Da macht die Nachricht die Runde: In Simbach am Inn wurden die ersten Toten gefunden.

Es sind drei Frauen aus einer Familie: Tochter, Mutter, Oma – ertrunken im Erdgeschoss ihres Hauses. Taucher haben sie im Laufe des Abends gefunden. Bewohner der oberen Stockwerke, die gerettet werden konnten, hatten auf die vermissten Nachbarn im Erdgeschoss aufmerksam gemacht.

Später entdecken die Retter auch ein paar Kilometer weiter eine Tote: Mit unvorstellbarer Gewalt hat die Flutwelle das Wohnhaus einer 80-Jährigen teilweise mit sich gerissen – und die Bewohnerin getötet. Die Leiche der Frau aus Untertürken sei einige Kilometer weiter in einem Bachbett entdeckt worden, bestätigt die Polizei.

Das Haus ist nur noch eine Ruine. Nicht einmal mehr die Hälfte des Gebäudes steht. Wie ein Mahnmal ragt es in den wolkenverhangenen Himmel. An den schiefen Wänden hängen noch gerahmte Bilder. Die Deckenverkleidung ist größtenteils abgerissen und gibt den Blick auf die Holzbalken des Dachbodens frei. In den Resten des Hauses einige Habseligkeiten: eine gelbe Lego-Box, Kisten, ein Staubsauger, an einem Geländer ein paar Hosen. Davor im einstigen Garten ein Blumentopf mit einer Geranie.

In Triftern geht Rainer Brander mit seinem Hund spazieren. Ein paar Stunden zuvor konnte der 74-Jährige gerade noch seine Schwägerin und Schwiegermutter aus dem Erdgeschoss befreien. Das bisschen Normalität der Gassirunde tue ihm nun gut, sagt er. „1991 konnte ich das Hochwasser mit Sandsäcken noch abwehren.

“ Kein Tropfen Wasser sei damals ins Haus gedrungen, sagt er stolz. Diesmal jedoch sei es viel schlimmer gewesen. Sogar er als Hochwassergeplagter habe sich so etwas nicht vorstellen können. „Das ging so schnell, plötzlich kam es auf der einen Hausseite rein und schoss auf der anderen Seite wieder raus.“ Sogar seine dreifach verglasten Fenster und die Terrassentür habe die Flut zerspringen lassen.

50 Gewitterzellen habe es über der Region am Mittwoch gegeben, sagt Landrat Michael Fahmüller bei einer Pressekonferenz am Donnerstagmorgen. Normalerweise seien es zwei. Normalerweise. Wer am Donnerstag zwischen den am stärksten betroffenen Orten Triftern, Tann und Sinnbach am Inn über Land fährt, sieht Wiesen, die daliegen wie gekämmt. Überall hat sich das Wasser Wege gesucht, ist die Hügel hinabgelaufen und hat sich in sonst kleinen Bächen gesammelt. 3500 Haushalte im Hochwasser-Gebiet sind auch am Donnerstag noch ohne Strom. Straßen sind teilweise oder ganz gesperrt, weil das Wasser die Erde darunter weggespült hat. In den Tälern schimmern noch immer überflutete Felder.

In einem solchen Tal, in Walburgskirchen, steht am Donnerstag Theodor Sendel auf der Straße vor seinem Hof. Der liegt direkt an einem kleinen Bach, der nun friedlich in der Sonne vor sich hin plätschert. Dass das am Vortag anders war, lässt der Haufen Holz erahnen, der sich neben der Brücke auftürmt. Wie bei einem überdimensionierten Mikado-Spiel wirken die Balken, die bis Mittwoch ein Holzstadel waren. „Bachaufwärts riss die Flut unzählige Baumstämme bei einem Sägewerk los. Sie schossen wie Rammböcke auf die Brücke neben unserem Hof zu und verkeilten sich dort“, sagt der 57-Jährige auf einen Besen gestützt. Die Schlammspritzer auf Gesicht und Kleidung zeugen von mühsamen Aufräumarbeiten. Der getrocknete Dreck macht seine ausgebeulte Jeans fast steif. „Weil das Wasser nicht mehr unter der Brücke hindurch kam, floss es links und rechts vorbei.“

Dort stand auf der einen Seite der Stadel, auf der anderen befindet sich der Kuhstall des Bauern. „Bis auf Brusthöhe standen die Kühe im Wasser, alle angebunden.“ Wäre es weiter gestiegen, hätten sie innerhalb kürzester Zeit losgemacht werden müssen. In nur 15 Minuten war das Wasser des Bachs um fünf Meter angestiegen. Die Kühe nahmen das scheinbar gelassen. „Blöd geschaut haben sie schon. Aber von Panik keine Rede.“ Mittlerweile kauen sie in aller Seelenruhe auf ihrem gewohnten Heu herum, als wäre nichts gewesen.

Während weiter südlich im Markt Tann der am Mittwoch überflutete Marktplatz wieder trocken und sauber daliegt und nur die verdreckten Helfer in den Hauseingängen an die Überschwemmung erinnern, herrscht in Simbach am Inn am Donnerstagmittag Katastrophenstimmung. Viele Zufahrtsstraßen sind gesperrt, noch immer liegen Teile der B 12 unter einer Schlammschicht. Verlassene Lkw stehen quer, Autos liegen im Straßengraben. Geöffnete Fahrertüren, verschlammte Innenräume und gesprungene Frontscheiben lassen erahnen, was die Fahrer hier am Mittwoch erlebt haben.

Auch das Zentrum von Simbach ist am Donnerstagmittag abgeriegelt. Überall zuckt Blaulicht durch das unter neuen Wolken schwindende Tageslicht. Feuerwehr, Polizei und THW stehen mit ihren Fahrzeugen in den Straßen. Es ist eine unwirkliche Stimmung. Völlig normale Menschen, die die eigenen Nachbarn sein könnten, laufen in schlammverspritzter Alltagskleidung durch die Straßen. Viele tragen Schaufeln oder Besen mit sich. Der Asphalt liegt begraben unter einer knöcheltiefen Schlammschicht, verbogene und geborstene Möbel liegen auf der Straße, Kühlschränke, Stühle. In zertrümmerten Schaufenstern stehen wundersam weiße Matratzen, in Zäunen hängt Pflanzengestrüpp, das von der Flut mitgerissen wurde. Es riecht nach nasser Erde, als es wieder zu regnen beginnt. Große Tropfen lassen den Schlamm aufspritzen.

„Man stelle sich nur mal vor, das wäre nachts passiert“, sagt Mike Lohr. Der 45-Jährige, dessen Sommersprossen sich mit Schlammspritzern mischen, hilft seit halb acht Uhr morgens. Wie oft bei solchen Unglücken, sieht er auch etwas Positives: „Die Hilfsbereitschaft und die Moral sind einfach geil.

“ Während er mit anderen verdreckten Helfern mit einem Pausenbier anstößt, fährt die traurige Wirklichkeit in einem Leichenwagen vorbei. Es ist ein weiterer Toter gefunden worden.

Extreme Hochwasser nach Regenfällen

Ein Rückblick auf frühere Hochwasserkatastrophen in Deutschland: Juni 2013: Überflutungen in ganz Mitteleuropa, das Hochwasser kostet in Deutschland und seinen Nachbarländern 25 Menschen das Leben. Der Rückversicherer Swiss Re errechnet einen Gesamtschaden von zwölf Milliarden Euro. In Deutschland sind Regionen im Norden und Osten besonders heftig betroffen, Zehntausende werden evakuiert. Januar 2011: Im nördlichen Abschnitt der Elbe erreicht das Hochwasser vielerorts Rekordhöhen. Doch die Deiche halten. Hunderte Helfer sind zwischen Lauenburg in Schleswig-Holstein und Wittenberge in Brandenburg unterwegs, um eine Überflutung zu verhindern. August 2010: Extreme Regenfälle führen im Dreiländereck von Deutschland, Tschechien und Polen zu heftigem Hochwasser und Überschwemmungen. Am polnischen Witka-Stausee bricht ein Damm, zusätzliche Wassermassen gelangen in die Neiße. Mindestens zehn Menschen ertrinken. Von den Schäden ist besonders Sachsen betroffen.

März/April 2006: Wegen des Elbe-Hochwassers wird in Teilen Sachsens Katastrophenalarm ausgerufen. Auch in anderen ostdeutschen Ländern gilt die höchste Alarmstufe. In Norddeutschland erreichen die Elbe-Fluten an mehreren Orten neue Höchststände jenseits der Werte des sogenannten Jahrhunderthochwassers von 2002. August 2005: Das von Italien kommende Tief „Norbert“ führt zu heftigen Regenfällen im Süden Bayerns, in Österreich und der Schweiz. In mehreren besonders vom Hochwasser betroffenen Landkreisen und Städten in Bayern wird Katastrophenalarm ausgelöst. August 2002: Nach sintflutartigen Regenfällen rollt eine verheerende Elbe-Flutwelle von Tschechien nach Norddeutschland. In Dresden erreicht das Hochwasser einen Rekordhöchststand. Allein in Sachsen sterben mindestens 20 Menschen. In Bayern sind besonders Regensburg und Passau von einer Flutwelle der Donau betroffen. Juli 1997: Nach starken Regenfällen hält das Hochwasser der Oder die Menschen in Brandenburg, Tschechien und Polen in Atem und verursacht Schäden in Milliardenhöhe. Bei einem der größten zivilen Katastropheneinsätze bemühen sich bis Anfang August 45 000 Helfer, darunter 30 000 Bundeswehrsoldaten, die aufgeweichten Deiche mit Millionen von Sandsäcken zu sichern. dpa

 
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