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Würzburg
Umstrittene Reform im Kinderfußball: Verweichlichen unsere Kinder, Frau Kauczor-Rieck?
Die DFB-Reform hat eine kontroverse Debatte darüber entfacht, ob die Leistungsgesellschaft zerfällt. Eine Kinder- und Jugendpsychiaterin hat dazu eine klare Meinung.
Keine Ligen-Systeme mehr ab 2024 im Kinderfußball: Verlernen unsere Kinder dadurch, mit Niederlagen umzugehen? Über diese Frage wird gerade heftig diskutiert.
Foto: Getty Images | Keine Ligen-Systeme mehr ab 2024 im Kinderfußball: Verlernen unsere Kinder dadurch, mit Niederlagen umzugehen? Über diese Frage wird gerade heftig diskutiert.
Carolin Münzel
 |  aktualisiert: 15.07.2024 16:07 Uhr

Große Aufregung hat es in Fußball-Deutschland zuletzt um einen Bereich gegeben, der sonst weniger im Fokus der Öffentlichkeit steht: der Kinderfußball. Den hat der Deutsche Fußball-Bund (DFB) gerade reformiert. Ab 2024 werden von der U6 bis zur U11 die Ligen-Systeme einschließlich Auf- und Abstieg abgeschafft und dafür Turniere – sogenannte Festivals – eingeführt, Tore werden zwar gezählt, jedoch nicht mehr dokumentiert. Es wird weiter Sieger und Verlierer geben, aber keine offizielle Wertung der Ergebnisse mehr.

Ziel der Umstellung ist es, den Kindern Druck zu nehmen, allen gleiche Einsatzzeiten zu gewähren und ihre Kreativität auf dem Platz zu fördern. Einer, der diese neuen Spielformen schon jetzt konsequent umsetzt, ist der Höchberger Trainer Tobias Riedner. Er setzt vor allem auf Funino. Die von ihm betreuten Kinder, so sagt er, "werden später deutlich bessere Fußballer sein als diejenigen, die klassisch trainieren". Längst nicht alle sind seiner Meinung. Zahlreiche Prominente äußerten ihre Sorge vor einem Verfall der Leistungsgesellschaft. Unter anderem polterte Fußball-Multifunktionär Hans-Joachim Watzke: "Demnächst spielen wir dann noch ohne Ball. Oder wir machen den eckig, damit er den etwas langsameren Jugendlichen nicht mehr wegläuft."

Was ist dran an der Reform-Kritik? Wir haben die Kinder- und Jugendpsychiaterin Katja Kauczor-Rieck dazu gefragt. Die 37-jährige gebürtige Stuttgarterin war selbst Leichtathletin. Sie arbeitet als Oberärztin der Kinder- und Eltern-Kind-Station am Universitätsklinikum des Saarlandes. Zugleich ist sie Sprecherin der AG Sportpsychiatrie der Deutschen Gesellschaft für Kinder- und Jugendpsychiatrie. Diese befasst sich sowohl mit der Bedeutung von Sport für die psychische Gesundheit von Minderjährigen, als auch mit den Problemen von jungen Menschen, die im Leistungssport aktiv sind.

Frage: Verweichlichen unsere Kinder, Frau Kauczor-Rieck?

Katja Kauczor-Rieck: Aus meiner Sicht ist das durchaus etwas, über das man diskutieren kann. Ob die Kinder immer mehr geschont werden, was Erwartungshaltung und Leistungsansprüche angeht. Aber das hat nichts mit den Regeländerungen im Jugendfußball zu tun. Da werden verschiedene Themen vermischt. Bei den Versuchen, Spiel- und Turnierformen anzupassen, geht es nicht darum, den Leistungs- oder Wettbewerbsaspekt herauszunehmen. Es geht darum, entwicklungs- und altersangemessenere Spielformen zu finden, dafür zu sorgen, dass die breite Masse sich mehr bewegt und Freude am Sport hat.

'Um individuelle Leistungsfähigkeit zu messen, brauche ich nicht zwangsläufig Tabellen oder Medaillenspiegel', sagt die Kinder- und Jugendpsychiaterin Katja Kauczor-Rieck.
Foto: Michael Kauczor | "Um individuelle Leistungsfähigkeit zu messen, brauche ich nicht zwangsläufig Tabellen oder Medaillenspiegel", sagt die Kinder- und Jugendpsychiaterin Katja Kauczor-Rieck.
Warum ist diese Anpassung notwendig?

Kauczor-Rieck: Man kann die Wettbewerbsformen, die im Erwachsenenbereich sinnvoll sind, nicht eins zu eins auf alle Altersstufen anwenden. Wir sagen in der Kinder- und Jugendpsychiatrie: Je jünger das Kind, umso wichtiger ist es, dass es prompte Rückmeldungen auf sein Verhalten bekommt, dass Konsequenzen unmittelbar folgen. Deshalb macht das neue Spielformat in Form von Festivals für mich Sinn. Die Kinder bekommen direkt ein Feedback auf ihre Leistung, rücken etwa ein Feld nach vorne, wenn sie gewonnen haben. Diese Anpassung ist aus meiner Sicht sehr angemessen. Der andere Aspekt der Reform ist ja, dass sie dafür sorgen soll, dass nicht nur zwei oder drei Kinder sehr viel spielen, sondern die breite Masse in Bewegung ist. Das halte ich als Kinder- und Jugendpsychiaterin für unwahrscheinlich sinnvoll, weil ich weiß, wie wichtig Bewegung für die körperliche und seelische Gesundheit ist.

Wie wirkt sich Wettbewerb generell auf Kinder aus?

Kauczor-Rieck: Kinder haben prinzipiell ein Interesse daran, sich zu messen – auf ganz unterschiedliche Weise. Ich kann mich mit mir selber, an Zielen oder mit anderen messen. Ich erlebe es so, dass Kinder an all diesen Formen prinzipiell interessiert sind, sich freuen, wenn sie Erfolge haben und sich weiterentwickeln.

Sich zu messen, ist also etwas sehr Menschliches?

Kauczor-Rieck: Ja. Sich zu messen, liegt in der Natur des Menschen und ist wichtig, um Selbstwert zu entwickeln. Außerdem macht es Freude, kann sogar identitätsstiftend sein. Und es fängt schon bei den ganz Kleinen an. Nach dem Motto: Wer ist als Erster an der Rutsche? Da sieht man, dass Kinder schon von sich aus ins Vergleichen gehen. Um individuelle Leistungsfähigkeit zu messen, brauche ich allerdings nicht zwangsläufig Tabellen oder Medaillenspiegel.

Wettbewerb ist also normal und bis zu einem gewissen Punkt sogar gut für die Entwicklung von Kindern. Wann wird es problematisch?

Kauczor-Rieck: Da spielen verschiedene Faktoren eine Rolle, unter anderem Temperament und Persönlichkeit. Bei jemandem mit großem Ehrgeiz etwa muss man sicher nicht noch von außen Druck aufbauen. Frustration und Misserfolg können generell entwicklungsfördernd sein, weil das Leben diese Erfahrungen nun mal bereithält. Es ist gut, früh zu lernen, dass man nicht immer Erster ist, nicht immer alles hinbekommt und nicht in allem gleich gut ist. Von daher sehe ich es überhaupt nicht als sinnvoll an, Kindern Frustrationserfahrungen komplett vorzuenthalten. Problematisch wird es, wenn die Wertigkeit eines Menschen mit der Leistung, die er bringt, verbunden wird. Natürlich darf man einem Kind, das eine gute Leistung bringt, sagen, dass man stolz ist. Es sollte aber auch spüren, dass Leistung keine Voraussetzung für Liebe ist und dass Anerkennung nicht mit Zuwendung gleichgesetzt wird.

Kann man Verlieren lernen?

Kauczor-Rieck: Ja. Verlieren ist zumindest zu einem gewissen Grad erlernbar. Es gibt sicherlich Menschen, die damit etwas mehr Schwierigkeiten haben als andere, weil sie zum Beispiel etwas impulsiver sind oder sehr ehrgeizig. Aber generell kann man jungen Menschen beibringen, mit Niederlagen umzugehen. 

Wie?

Kauczor-Rieck: Da gibt es verschiedene Strategien: Die damit verbundene Emotion wie Ärger oder Traurigkeit in einer gewissen Dosis zulassen, sich Trost holen, das Gespräch mit jemandem suchen oder generell schauen, was einem guttut in diesem Moment. Da muss jeder herausfinden, was für ihn passt. Im Idealfall bringen Trainerinnen und Trainer Kindern diese Strategien bei, helfen ihnen so, den Umgang mit Niederlagen zu erlernen.

Ist Leistung ohne Druck möglich?

Kauczor-Rieck: Eher nein. Druck und Leistung sind vermutlich eng verbunden und Druck ist nicht nur negativ. Die Frage ist, wie viel Druck von außen nötig ist. Diejenigen, die keinen Druck von außen benötigen, machen ihn sich selbst.

Hat der Leistungsdruck auf Kinder in den vergangenen zehn bis 15 Jahren zugenommen?

Kauczor-Rieck: Ich denke nicht. Mein Gefühl ist nicht, dass von den jungen Menschen früher weniger erwartet wurde, sondern dass Leistungsdruck heute mehr hinterfragt wird. Kinder haben zum Teil schon viel Stress, ich bin aber der Meinung, den hatten sie früher auch. Da wurde das nur nicht so kritisch beleuchtet. Heute sollen die Anforderungen möglichst gering sein und es soll möglichst wenig Frustration entstehen. Das ist unrealistisch.

Sind deutsche Kinder überbehütet?

Kauczor-Rieck: Ich tue mir schwer, das pauschal zu sagen. In manchen Bereichen gibt es dazu eine Tendenz. Die Reform im Jugendfußball gehört aber sicher nicht dazu.

 
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