Der Fußball-Herbst 2022 – nicht immer ein goldener. In Marseille wurde während des Champions-League-Spiels gegen Eintracht Frankfurt ein Gäste-Fan von einer Leuchtrakete am Hals getroffen und lag mit gerochenem Halswirbel mehrere Tage im Krankenhaus. Gegen einen Franzosen wird wegen versuchter Tötung ermittelt. In Nizza randalierten Chaoten vor der Conference-League-Partie gegen den 1. FC Köln. Erst wurden zwei Deutsche durch Messerstiche verletzt, im Stadion attackierten Kölner Nizza-Ultras unter anderem mit Bistrotischen als Waffen. 16 Deutsche wurden nachträglich identifiziert und festgenommen.
In Malmö sorgten Berliner Union-Ultras beinahe für einen Abbruch des Europa-League-Matches. Bei Drittligist Bayreuth raubten Dresdner Gewalttäter 10.000 Euro Bargeld, verletzten 14 Polizisten und sorgten für Sachschaden in Höhe von 30.000 Euro. In allen Beispiel-Fällen Täter: Teile der Ultraszene. Auch beim Regionalliga-Derby zwischen dem FC Würzburger Kickers und dem FC 05 Schweinfurt Anfang September wurden Ausschreitungen, das Abbrennen von "gegnerischen" Fan-Utensilien und Pyrotechnik sowie tätliche Angriffe auf die Polizei registriert – die Strafen für die Vereine durch den Verband stehen noch aus.
Einer, der sich mit dieser radikalen Fan-Szene beruflich beschäftigt, ist der Würzburger Jürgen Bergmann. Der 59-Jährige war Mitglied des Rimparer FCN Fanclubs Stern 81 und ist nach sechs Jahren in ehrenamtlicher Funktion seit 2007 beim 1. FC Nürnberg festangestellt als Fan-Beauftragter. Zum Saisonende hat er aus persönlichen Gründen gekündigt. Im Gespräch mit dieser Redaktion spricht Bergmann über die Radikalisierung einer Subkultur und deren Strukturen.
Jürgen Bergmann: Letztlich beides. Es ist aber kein deutsches Phänomen, sondern ein europäisches. Das lässt sich alles auf einschlägigen Facebook-Seiten wie "Gruppaof" oder "Hooligans TV" verfolgen. Skandinavien ist da massiv vertreten, die Schweiz, Italien, Spanien, Frankreich, Benelux-Länder. Hinunter bis in die dritten, vierten Ligen zu Vereinen, die man noch nie gehört hat. Auch in Deutschland. In den Fanabteilungen der Vereine betrachten wir das mit einer gewissen Sorge.
Bergmann: Wir hatten den massiven Cut durch Corona. Die Gruppen waren weg von den Stadien. Vieles von dem, was die Gruppen zusammenhält, war weg. Die hatten Existenz-Nöte. Es hat in dieser Phase fast überall einen Generationenwechsel gegeben. Die neue Generation legt deutlich mehr Wert auf Pyrotechnik. Es gibt schon noch verabredete Auseinandersetzungen fernab der Stadien und Spieltage auf Äckern und Plätzen. Aber jetzt kommen die Auseinandersetzungen wieder näher an die Stadien ran. Speziell in Frankreich auch wieder in die Stadien.
Bergmann: Hooligans sind bei vielen Vereinen eine aussterbende Spezies. Die Herrschaften sind nicht mehr so aktiv, haben oft schon den Fünfer oder Sechser vornedran, sind im Leben angekommen. Bei vielen Vereinen hat die Randale jetzt ein Teil der Ultra-Gruppierungen übernommen. Wir haben es deswegen mit einer anderen Szene zu tun: Es steht der Support im Vordergrund, lautstarke und farbenprächtige Choreografien. Aber der Stellenwert von Pyro und körperlichen Auseinandersetzungen ist deutlich höher in diesen Gruppen als vor Corona.
Bergmann: Es war eines der Tabuthemen, mit Pyro auf Menschen zu zielen. Aber wie so oft, werden Tabus von neuen Generationen angegangen. Eine Signalfackel oder Leuchtspurmunition in einen vollbesetzen Nachbarblock zu werfen oder zu schießen, ist an Fahrlässigkeit nicht zu überbieten. Da endet der letzte Rest Verständnis bei mir, es geht um die Gefährdung von Menschenleben.
Bergmann: Es geht um Reputation auf den besagten einschlägigen Seiten. Jede Gruppe möchte die krasseste sein. Immer noch einen drauf setzen. Damit, dass die Decke irgendwann erreicht ist, haben einige ihre Schwierigkeiten. Dann fallen Tabus. Die Gruppen wollen sich zeigen. Da schaut man schon, dass man wieder ein Video platzieren kann, wenn man länger nicht präsent war. Unsere Sorge in der Fanarbeit gilt dem Wettstreit, wer die krasseste Gruppe ist. Unsere Aufgabe ist es, den Grenzstrich, der überschritten wird, nachzuziehen. Nochmal: Es geht den Leuten um Reputation: "Dass wir krass sind, dürfen nicht nur wir wissen. Alle anderen müssen es wissen."
Bergmann: Die Ultra-Welt, die Philosophie und Mentalität, ist sehr komplex. Die Meinungen in den Gruppen sind oft kontrovers. Es ist nicht immer alles logisch. Ein typischer Widerspruch: Ultras sind gegen Kommerz, finanzieren sich aber durch Verkauf von Merchandise-Artikeln. Ultras sind sozial tätig, sammeln beispielsweise in Nürnberg zu Weihnachten unfassbare 100.000 Euro für karitative Zwecke. Auch leisten sie eine Jugendarbeit, da kommen oft städtische Jugendämter nicht hinterher. Andererseits gibt es diesen Machtkampf mit den Vereinen um das Verbot von Pyrotechnik. Dabei vergessen die Ultras, warum das verboten ist: weil es gefährlich ist.
Bergmann: Den größten Teil der Ultraszene würde ich nicht als gewaltsuchend bezeichnen. Die Unterstützung der Mannschaft steht im Mittelpunkt. Nur: Der radikalere und meist jüngere Teil der Ultras hat mehr Stimmrecht bekommen. Und ist besser "ausgebildet": Kampfsport hat an Bedeutung gewonnen. In der Corona-Zeit hatten Viele mehr Zeit und haben diese für Training genutzt. Diejenigen, die bei den Auseinandersetzungen nicht ganz hinten sind, sind durchtrainiert, verzichten auf Alkohol. Als, fränkisch gesagt, "Kerwa-Raffer" hättest du da keine Anteile. Deswegen haben englische Hooligans, die überwiegend noch zur Kategorie Saufen und Raufen gehören, an Bedeutung verloren.
Bergmann: Gewalt war schon immer faszinierend für sehr viele Menschen. Gewalt strahlt Macht aus, steht für Zusammenhalt. Das ist oft gerade für die anziehend, die selbst nicht die nötige körperliche Konstitution haben. Bei jeder Festzelt-Prügelei schauen Menschen, die selbst nie Gewalt anwenden würden, fasziniert zu. Gewalt ist ein menschliches Phänomen, das zeigen die unzähligen Kriege. Wir haben gerade so geballt viele schlechte Nachrichten wie selten zuvor. Davon sind wir alle betroffen, das verstärkt das Aggressionspotenzial massiv. Selbst im Supermarkt oder in der Bäckerei.
Bergmann: Ja. Die ersten Auseinandersetzungen Nürnberger Anhänger sind aus dem Jahr 1922 überliefert. Da gab es keine Ultras oder Hooligans. Der Fußball war bis in die Neunziger der Proletensport in Deutschland. Das Hochglanz-Image, der Frauenanteil von 25 Prozent, die Familien in den Stadien – das sind jüngere Entwicklungen. Die, zusammen mit dem immensen Sicherheits-Aufwand rund um die Spieltage, dazu geführt haben, dass Fußballspiele in Deutschland zu den sichersten Großveranstaltungen gehören.
Bergmann: Das Bild des betrunkenen, asozialen, arbeitslosen Fußball-Fans, der in der Sonderschule durchgefallen ist, gibt es eh nicht. Ultras waren schon immer kreativ. Diese Gruppen zu unterschätzen, wäre der größte Fehler. Sie sind bildungsnah. Die Arbeitslosenquote liegt unter Ultras deutlich unter dem Bundesschnitt. Der Mannschaft durch Deutschland oder Europa hinterher zu reisen, kostet viel Geld. Die Ultras haben ausgeklügelte Strukturen. Ultra ist man eh nicht nur am Spieltag. Ultra ist man 24 Stunden an sieben Tagen in der Woche. Ultra wird gelebt. Für viele ist das die Familie, ein Ort, an dem sie Bestätigung und Rückhalt finden. Es existiert ein Netzwerk. Die Ultras haben in der Fanszene den überproportional größeren Zulauf. Das ist europaweit die wohl größte jugendliche Subkultur überhaupt.
Bergmann: Da sind wir noch nicht. Gerade durch die Verjüngung und Radikalisierung einzelner Gruppen sind wir davon entfernt, dass es Mainstream wird. Der Generationenwechsel war gerade erst.
Bergmann: Da muss man nur eine Grundschul-Lehrkraft fragen. Selbst im Pausenhof sind die Jungen vorn dabei und melden Ansprüche an. Das treibt die Spirale immer weiter voran. Beim Fußball hoffe ich trotzdem auf einen Selbstreinigungsprozess in der Szene. Nicht alle finden die aktuelle Entwicklung gut. Und in letzter Instanz: Fanstrukturen haben sich immer geändert. Es gab die "normalen" Fans, dann die Trikot-Zeit, die Kutten-Zeit, die Hooligans – und dann die Ultras. Zeiten ändern sich, Menschen ändern sich.
Demografische Veränderungen, Klimawandel, Energiekrise, Corona, Digitalisierung oder neues Freizeitverhalten der Menschen: Die gesellschaftlichen und ökologischen Herausforderungen in einer digitalisierten Welt betreffen auch den Fußball. Die Veränderungen beleuchtet diese Redaktion in der Serie „Fußball im Wandel“, die in loser Folge erscheint. Alle bislang veröffentlichten Beiträge finden Sie unter: www.mainpost.de/dossier/fussball-im-wandel/
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