An den Wänden hängen ein paar Schals und drei Bilder. Die kleine Wohnung in Gerbrunn ist dezent blau-weiß geschmückt. Dieter Seitz sitzt am Wohnzimmertisch, blättert im Ordner mit den ebenfalls blau-weißen Aufklebern: "Über 1600 Spielergebnisse habe ich dokumentiert." Dann holt er eine Jeansjacke, bei der die Ärmel abgeschnitten sind, aus dem Schrank. Sie ist voll mit Aufnähern seines Lieblings-Fußballvereins. Das ist seine Kutte. Sein Heiligtum. Seitz ist Mitglied des "Anhängerclubs", des einzigen noch existierenden Kutten-Fanklubs in der Region. Und seine Liebe gilt dem Bayernligisten Würzburger FV.
Auch wenn es den bankrotten ehemaligen Zweitligisten FV 04 Würzburg nominell noch gab: Es war klar, dass im Sommer des Jahres 1981 sein Nachfolgeverein Würzburger FV in der damaligen C-Klasse einen Neuanfang starten würde. Und weil Fußballfans nun mal fleischgewordene Tradition sind, wundert es wenig, dass ausgerechnet am 19. April der erste Fanklub dieses neuen Vereins gegründet wurde: der "Anhängerclub 1981". 19.04. - 1904. FV 04. Assoziationen, die das Herz eines "Nullvierers" pumpern lassen.
Über 400 Zuschauer in der untersten Spielklasse
Selbstverständlich auch das von Dieter Seitz. Auch wenn er erst ein Jahr später über einen Freund dazu gekommen ist. Der Didi, wie sie ihn alle nennen, war schon "Nullvierer", nur ohne "Uniform". Mit der Kutte wurde er, aktuell mal wieder Vorsitzender des "Anhängerclubs", einer der leidenschaftlichsten in der neuen Heimat des Zellerauer Vereins, dem Stadion an der Mainau. Über 400 Zuschauer kamen damals zu den Heimspielen - in der untersten Klasse. "Ich war schnell begeistert von dieser Atmosphäre."
Da waren diese zehn, zwölf jungen Männer in ihren Jeanswesten. Ein bisschen wie Rocker sahen sie aus und feuerten ihren "Verein", wie die Nullvierer und später auch der WFV in Würzburg stets hießen, unentwegt an. "Das ging recht schnell, und schon war ich einer von ihnen." Der Zusammenhalt hat den damaligen Bundeswehrsoldaten gepackt: "Jeder war für jeden da. Und so ist das heute noch." Nur, dass sich der "Anhängerclub" nicht mehr so oft in der Freizeit trifft. Früher jeden Freitag, Samstag und beim Spiel.
In den Achtzigern ändert sich das Outfit in den Kurven
Es waren wilde Jungs. "Die Kuttenfans waren die, die sich für ihren Verein geschlägert haben. Unsere Kutten haben es jedem gezeigt: Wir sind da, legt euch nicht mit uns an." Irgendwann Ende der Achtziger war das martialische Outfit dem rauflustigen Teil der Szene zu auffällig, die Jungs wurden zu leicht von der Polizei erkannt. Es entwickelten sich neue Szenen, die Skinheads in Bomberjacken, die Hooligans in legerer Freizeitkluft.
Wer jetzt noch seine Farben traditionell zur Schau stellte, dem lag ausschließlich der Fußball am Herzen. Plötzlich waren die Kutten die Braven. Die Szene dünnte aus. In der Bundesliga genauso wie in Schweinfurt beim FC 05 oder in Würzburg bei den Kickers, wo es bald gar keine Kutten mehr gab.
Beim WFV, wo es zur Hochzeit neben dem "Anhängerclub" noch die "Grombühler Jungs" und den Fanklub "Blau-Weiß" gab, verschwanden die bunten Jeanswesten erst Anfang der Neunziger. Trikots, Schals - mehr Farbe wurde nicht getragen. "Die Fanklubs gab es weiter", sagt der 58-jährige Seitz. Nur: Die Kutten hingen im Schrank. Spätestens zur Jahrtausendwende auch die der zweiten Generation, die nur für eine kurze Auferstehung gesorgt hatten.
2016 kommen die alten Kutten wieder aus dem Schrank
Bis 2016. "Da ging es dem FV finanziell schlecht", erinnert sich der Schulhausmeister. "Wir vom 'Anhängerclub' haben uns gedacht: Da müssen wir ein Zeichen setzen. Also haben wir mit Arbeitskraft geholfen, wo wir konnten." Das sprach sich herum, andere blau-weiße Fußballfreunde interessierten sich für diese älteren Herrschaften und ihren Klub. Die dritte Generation. Als Zeichen nach außen wurden die alten Kutten aus dem Schrank geholt, neue angefertigt.
Seither sind die Kutten-Fans beim WFV präsenter denn je. Ein Anachronismus. Für den auch Seitz keine greifbare Erklärung hat. "Vielleicht, weil die Alten nie wirklich weg waren. Weil wir uns nicht zu alt vorkommen für den Spaß." Der Klub-Oldie ist 68. "Wir haben aber auch Glück, dass wir genug Leute haben, die sich im Ehrenamt wohlfühlen." Es sei wie in jedem Sportverein: "Machen welche was, geht auch was."
Bahnbrechend dann das Jahr 2017. Seit der vorerst letzten Satzungsänderung dürfen auch Frauen, Jugendliche und Kinder in den "Anhängerclub". Das mit der Männer-Gesellschaft "war einfach zu altmodisch", so Seitz.
Das Gros ist freilich immer noch männlich und jenseits der 50, aber es gibt inzwischen auch Frauen, einen 15-Jährigen und demnächst - unter den Fittichen seiner Mama - einen Siebenjährigen. Derzeit sind es 19 aktive Mitglieder. Es waren schon über 20, eine gewisse Fluktuation gibt es, weil "manche halt nach einiger Zeit merken, dass ein organisierter Fanklub doch nichts für sie ist".
Es gibt nämlich Regeln und Verpflichtungen. Wie die Kutten-Taufe. Ein hochoffizielles Zeremoniell, das die Anwärterin und den Anwärter zum Vollmitglied macht. Der Höhepunkt ist das Übergießen der Kutte mit Bier - für Antialkoholiker und Kinder wahlweise mit Limo oder Saft. Nach einem halben Jahr ist es soweit, im Rahmen des nächstmöglichen Festes. Davon gibt es einige im Jahr.
Freundschaften und ein Wacken für Fußballfans
Auch mit Fans anderer Vereine, aus dem ganzen Bundesgebiet. Freundschaften hatten die "Nullvierer" traditionell mit den Anhängern des FC 05 Schweinfurt und der Offenbacher Kickers. 2019 kam die offizielle mit den "Komischen Vögeln" vom FSV Frankfurt dazu, 2020 mit "Die Goude" (OFC) und "Black Beauty" (Borussia Mönchengladbach).
Der Gladbacher Michael Laumen ist auch Administrator der Facebook-Gruppe "Kuttenträger mit Tradition", an der sich über 1200 Fans von rund 50 Vereinen beteiligen - von der Bundesliga bis zur Kreisklasse. Laumens Traum: ein bundesweites Kutten-Treffen, eine Art Wacken für Fußballfans.
Das gefiel Seitz. Bei einem Testspiel des WFV gegen Bamberg 2019 in Eltmann trug er den Gedanken an die Vorstandschaft des Vereins - und stieß auf offene Ohren. "Würzburg liegt zentral, und über die Bewirtung könnte einiges für den WFV hängenbleiben", sagt der "Anhängerclub"-Vorsitzende.
2020 sollte es soweit sein: Das erste große Kutten-treffen mit 500 Fans. Doch dann kam Corona. Einige Gäste hatten Hotels gebucht, die sie nicht wieder stornieren konnten - und so trafen sich tatsächlich im Sommer rund 50 Fans aus zwölf Vereinen unter Einhaltung gültiger Corona-Auflagen zu einem "Geistertreffen". Die FVler zeigten ihren Gästen die Stadt, beim Rundgang in voller Montur waren diese für andere Spaziergänger ein begehrtes Fotomotiv.
Würzburger zu Gast bei Schalkes legendärem "Trompeten-Willy"
Da umarmten sich Offenbacher und Frankfurter - unvorstellbar. "Es gab nicht ein böses Wort, eine tolle Atmosphäre", erinnert sich der Gerbrunner. Es folgten Gegeneinladungen nach Saarbrücken, Stuttgart und zu Schalkes berühmtem "Trompeten-Willy". "Bei ihm auf dem Campingplatz durften wie alten Hasen vom FV fremde Kutten taufen. Eigentlich ein NoGo, für uns ein Zeichen großen Vertrauens." Da war klar: Neben der Hoffnung auf ein "echtes" Kutten-Treffen 2022 würde es 2021 schon mal das nächste Geistertreffen geben. Diesmal kamen 100 Kutten aus 20 Vereinen.
"Menschen wie wir ticken anders", erklärt Seitz. "Auch wenn uns Alte früher die Auseinandersetzung fasziniert hat, heute ist es der tiefenentspannte Umgang miteinander."
Er erzählt vom Hamburger SV, der im Stadion ein "Kutten-Eck" eingerichtet hat, wo sich HSV-Kutten ungestört mit Gästen von am Spiel unbeteiligten Klubs treffen können, ohne Anfeindungen. "Unser Slogan ist: In den Farben getrennt, in der Sache vereint." Nur Fußball und Freundschaft zähle. Wenn irgendwo ein Kutten-Fan, der Familie hat, stirbt, werde in der Szene gesammelt für die Hinterbliebenen. "Es geht ausschließlich um das Wir und Miteinander." Nicht um Schlägereien wie bei den Hooligans oder Pyro-Zündeleien und Fahnen-Diebstähle wie bei den Ultras.
Warum die Kutten nicht mit den Ultras im Block stehen
Zu Letzteren hat Seitz ein gespaltenes Verhältnis - generell, aber explizit auch an der Mainaustraße. "Es ist doch die selbst gewählte Philosophie der Ultras, den Verein zu leben. Bei uns sehe ich aber nur die Kutten tatkräftig helfen." Deswegen stehe man auch nicht mit der Ultra-Gruppierung gemeinsam im Block.
Rigoros sind die Kutten aber auch notfalls in den eigenen Reihen, gegenüber Mitgliedern, "die sich rufschädigend verhalten" - dann droht, ganz demokratisch nach Mehrheitsentscheidung, der Ausschluss. "Zu diesem Mittel mussten wir noch nicht greifen." Gab's mal ein Ärgernis, sei der Verantwortliche ohnehin gegangen, sagt Seitz.
Dafür werden als Ehrenmitglieder Kutten der ersten Stunde geführt. "Sie gehören immer noch dazu. Einmal 'Anhängerclub', immer 'Anhängerclub'", betont Seitz, der selbst noch seine 39 Jahre alte Original-Kutte trägt - freilich ungewaschen. Da stecke mächtig Geld drin, allein der neugestaltete, große Rücken-Aufnäher koste 80 Euro. "Aber es ist der ideelle Wert, der sie unbezahlbar macht."
Weswegen es früher, in den stürmischen Zeiten, einen Kutten-Kodex gab: Wurde einem Fan die Jeansweste von einem anderen geraubt, durfte dieser sie verbrennen. Seitz schüttelt darüber den Kopf, noch mehr aber darüber, dass einige Fans ihre Kutte, wenn sie aussteigen, auf Ebay verkaufen. "So etwas verkauft man doch nicht. Nie."
Inwieweit sich der Herr Seitz und Konsorten sonst ins Vereinsleben dort eingebracht hat, vermag ich nicht zu beurteilen.
Worüber ich aber immer schmunzeln muss ist die Tatsache, dass manche ein Akzeptanzproblem damit haben, dass der WFV (leider) im Jahre 1981 in Konkurs gegangen ist und aufgelöst wurde. Was soll also noch das 04 im WFV Emblem, wenn doch dort richtigerweise schon 1981 e.V. steht?
Selbst als eingefleischter Nostalgiker würde ich mit so etwas am Rücken oder in der Fahne nicht herumlaufen wollen.
Der 1. WFV 04 ist schon lange Geschichte, es gibt eben aktuell den WFV 1981 e.V.
Aber so eine Kutte ist ja keine Urkunde, insofern kann man da tragen was man will. Aber schmunzeln muss ich immer, wenn ich so etwas sehe.
Es lebe die Erinnerung.
D.S. haben..... und nach dem Artikel wohl noch einige mehr!