Die Polizeiliche Kriminalstatistik für das Jahr 2023 zeigt: Ältere Menschen ab 60 Jahren werden vergleichsweise seltener Opfer von Gewalt. Sie machen 6,2 Prozent aller Opfer von Gewaltkriminalität aus. Dennoch wurden knapp 16.000 Seniorinnen und Senioren als Opfer registriert, die Dunkelziffer liegt deutlich darüber. Wie können sich die sogenannten Best Ager wehren, wenn sie angegriffen werden und Hilfe nicht in Sicht ist?
Edgar Hergert aus Eibelstadt (Landkreis Würzburg) ist Trainer in der Ju-Jutsu-Abteilung des SC Heuchelhof Würzburg und kennt Tipps und Tricks, um Aggressoren gegenüberzutreten. Gegebenenfalls eine heikle Situation entschärfen, noch ehe es zum Kampf kommt. Allerdings betont der 60-jährige Träger des schwarzen Gürtels und des 2. Dan: "Wenn einem da eine Gruppe Aggressoren entgegenkommt, womöglich noch in aufgeheizter Stimmung, und die Situation bedrohlich wird, ist es keine Schande, den Gehsteig auf der anderen Straßenseite zu wählen. Wo ich nicht stehe, kann mir auch nichts passieren." Spätestens, wenn Waffen im Spiel seien, gelte: "Keine Chance. Wegrennen oder Geld rausrücken."
Grundsätzlich sieht Herget bei allen Varianten der Selbstverteidigung, insbesondere für Senioren, den Zeitgewinn im Vordergrund. Zeit gewinnen, bis Hilfe durch andere Passanten oder die Polizei eintrifft.
Für eine gewisse Basis-Fitness rät er zu Nordic Walking sowie Balancetraining, beispielsweise mit Standübungen auf einer zusammengerollten Isomatte. "Ein fester Stand ist die Grundlage jeder Verteidigung." Von einstudierten Übungen zur Abwehr hält Herget bei Kampfsport-Laien und älteren Menschen wenig, in der Hektik einer Eskalation würden die ohnehin in Vergessenheit geraten sein. Stattdessen rät er zu fünf schlichten, grundlegenden Verhaltensmustern.
1. Stimme
"Der Aggressor geht immer davon aus, dass er überlegen ist", sagt Hergert. "Lege deswegen ab, dass du das Opfer bist", rät er Angegriffenen. "Selbstbewusstsein demonstrieren, nicht wegschauen, Körperspannung aufbauen – auch als Frau."
Die wichtigste Waffe sei dabei die eigene Stimme. Sie diene nicht nur zum Hilferuf oder um Aufmerksamkeit zu erregen. "Schreie ich den Angreifenden an, werde ich selbst mutiger. Adrenalin fließt, der Körper spannt sich. Der Aggressor erschreckt sich, bekommt womöglich Angst. Die paar Sekunden habe ich schon, um mir noch mehr einfallen zu lassen oder zu flüchten." In der japanischen Kampfkunst heiße der kurze laute Schrei "Kiai".
2. Stand
Sobald eine Situation körperlich wird, komme es im Hinblick auf mögliche Abwehrhandlungen auf einen festen, sicheren Stand an. Die asiatische Kampfkunst nennt das laut Herget "die Kraft, die aus der Erde fließt" und meine: nicht Wurzeln schlagen, sondern trotzdem beweglich bleiben.
Einen guten Stand kennzeichnen, so Herget, eine schulterbreite Fußstellung, in der die Beine in der Tiefe in einer Schrittposition leicht versetzt sind: der "starke" Fuß ist hinten, ebenso die starke Hand. "Das gibt Stabilität. Wenn ich beim Schlagen dann die starke Hand von hinten zum Ziel bewege, bringe ich meine komplette starke Seite mit voller Wucht nach vorne." Der Körper dreht dabei über die Hüfte nach vorn. "Biomechanisch addieren sich die Kräfte so."
3. Ausweichen
Der eigene Schlag freilich steht in der Verteidigungsstrategie nicht ganz oben. Vielmehr das Ausweichen. Davon, die Energie des Angreifers zu nutzen und in eigene umzuwandeln zu wollen, wie es sein Sport Ju-Jutsu lehrt, rät Herget ab: "Das kannst du als Laie vergessen. Auch die angreifende Hand greifen zu wollen, ist schwierig." Wirkungsvoller sei eine Kombination aus Ausweichbewegung und Abwehrreaktion. Für letztere sehe die optimale Position eine offene Handhaltung vor, jedoch mit geschlossenen Fingern –ähnlich zwei Tischtennisschlägern.
20 Zentimeter vor dem eigenen Gesicht sollten die Hände sein und oben. "Wie im Schwertkampf: Die Hände von oben nach unten zu führen geht schneller als von unten nach oben." Wichtig sei der Abstand zum Aggressor. "Nicht auf Schlagdistanz heranlassen, ein bis eineinhalb Meter sollte der Abstand sein. Wenn ich das Gefühl habe, zu nah zu stehen zum Angreifenden, weiche ich leicht aus."
Wichtig: Das Ausweichen solle nicht durch einen Schritt zurück erfolgen, was Gewalttäterinnen oder -täter zur Offensive einladen würde, sondern durch eine Seitwärtsbewegung, um "seitlich in den Rücken des Anderen kommen. So benötigt der Zeit, die Distanz zu überbrücken und kann mir auch mit den Füßen nichts tun."
4. Deckung
Sollten Angreifende trotz Schreien und Ausweichen durchkommen, ihr Opfer zu Boden bringen, dann muss das längst nicht das Ende sein: "Ein Kampf ist immer erst aus, wenn ich aufgebe", sagt Herget.
Wenig dienlich sei es, nach dem Aggressor zu greifen oder ihn herunterziehen zu wollen. "Lieber am Boden zusammenkugeln, Hände vor das Gesicht, ein Knie hoch zum Brustkorb ziehen, mit der Sohle Richtung Aggressor und mit dem anderen Bein treten." Ziel sollten Knie oder Schienbein sein. Entscheidend: "Den Fuß dabei anspannen, indem man die Zehen leicht nach oben zieht, um dem Fußgelenk Stabilität zu geben." Wenn Angreifende die Richtung wechseln, sollten am Boden Liegende sich kreisförmig mitbewegen, um Tritte von der Seite in die Nieren zu verhindern
5. Schlagen
Erst, wenn es sich nicht vermeiden ließe, rät Hergert als letzte Option zum Schlagen: "Nur bei einem Angriff auf Leib und Leben, wenn juristisch eine Notwehrsituation gegeben ist." Und wenn, "dann am besten mit Knie oder Ellenbogen, also mit harten Körperteilen. Möglichst gegen den Kopf, Hals oder Genitalbereich. Schläge gegen einen austrainierten Oberkörper bringen nichts."
Im Rahmen der Selbstverteidigung seien letztlich auch Beißen, Kratzen und Zwicken probate Mittel. "Das mag keiner." Wer mit der Faust schlägt, solle diese fest geschlossen halten, mit dem Daumen außerhalb. Einen harten handlichen Gegenstand wie ein Feuerzeug, Handy oder Schlüsselbund zu umgreifen "verstärkt die Schlaghärte exorbitant. Schirm oder Stock sind ideal zur Abwehr." Selbst eine Jacke diene zum Schlagen. Oder eine Handtasche.
Ja, Ju-Jutsu ist was für jedes Alter!