Freitagabend. Die 15-jährige Nadine nimmt spätabends den letzten Bus in den Heimatort. Der Bus ist fast leer. An der nächsten Haltestelle steigt ein Mann ein und setzt sich direkt neben sie - trotz der vielen freien Plätze vor und hinter ihr. Nadine ist die Situation unangenehm. Sie fühlt sich bedrängt. Ihre Gedanken kreisen. Was, wenn der Mann aufdringlich wird?
Eine "Situation durchspielen" so nennt Alois Martha den Fall von Nadine, der sich nicht in der Realität ereignet hat. Seit 2005 bringt der Lengfurter jungen Mädchen und Frauen bei, wie man in so einem oder vielen anderen Fällen reagieren kann – mit Worten, aber auch mit Taten. In seinen Selbstverteidigungskursen für Frauen und Mädchen ab zehn Jahren übt er wöchentlich, wie sich diese in schwierigen Situationen verhalten, schützen und verteidigen können.
"Die Frage ist immer: Wie reagiere ich in welcher Situation?"
Auch an diesem frühen Freitagabend sind einige Jugendliche in die Sporthalle des TV Marktheidenfeld gekommen. Schon im Flur der Halle hört man laute Patsch-Geräusche. Mit gezielten Fußtritten üben die Mädchen, einem potenziellen Angreifer in den Bauch zu treten. Den vermeintlichen Angreifer mimen an diesem Abend Alois Martha und ein Trainerkollege. Mit einem blauen Schaumstoff-Pad vor dem Bauch bewegen sie sich auf die Mädchen zu. Ab und zu verstärkt Martha seine Aktion noch mit einem Schrei.
"Das Schreien setzt die Mädchen unter Stress. Aber sie lernen auch, damit umzugehen und sich nicht beeinflussen zu lassen oder mit Angst zu reagieren", erläutert der Selbstbehauptungs-Trainer nach der Übung. "Die Frage ist immer: Wie reagiere ich in welcher Situation?" Um hier das Richtige abrufen zu können, brauche es ein Repertoire an Techniken. Und die müssen geübt werden. Also gehen einige Mädchen nach dem Tritt-Training auf die Matte, üben richtig zu fallen oder trainieren, sich aus einer Umklammerung zu befreien. "Das Kämpfen auf der Matte ist wichtig und macht den Mädchen auch Spaß", erzählt Martha, der auch langjähriger Judo-Trainer beim TVM ist.
Aus dieser Kampfsportleidenschaft heraus entstand 2005 auch die Idee der Kurse. "Jeder kann sich selbst verteidigen, egal ob mit Judo- oder Ju-Jutsu-Griffen", erzählt Martha die damalige Idee. Mit im Boot ist auch Susanne Panchyrz von der Polizei Marktheidenfeld. Ein Schwerpunkt ihrer Arbeit liegt auch auf dem Thema "Häusliche Gewalt". Als Jugendbeamtin kommt sie zudem viel in Kontakt mit jungen Menschen. "Ich bin Ansprechpartnerin, egal, ob schon Dinge passiert sind, oder wenn sich die Mädchen vor etwas sorgen", erzählt sie. "Wichtig ist, dass die Mädchen wissen, da gibt es wen, an den können sie sich wenden", erzählt sie.
Unterstützung auch von Seiten der Polizei: Darf ich mich wehren?
Wenden sich die Mädchen an Susanne Panchyrz, kann diese beraten und begleiten. Zum Beispiel in rechtlichen Fragen bei einer Anzeige. Aber auch beim Thema Mobbing in den Sozialen Netzwerken. Was tue ich, wenn Bilder von mir gegen meinen Willen ins Netz gestellt wurden? "Da ermutige ich die Mädchen immer, auf mich zuzukommen", so Panchyrz. Auch wenn ihnen das Thema unangenehm oder peinlich sei. "Oft werde ich auch gefragt: Darf ich mich wehren? Und wie?", erläutert die Polizistin. In diesem Moment verweist sie auf die Kurse bei Alois Martha.
So ist auch die zwölf Jahre alte Clara (Name von der Redaktion geändert) in den Kurs gekommen. Sie ist mehrfach "unangenehm angebaggert worden", erzählt sie. "Das hat mich total gestresst." Der Kurs habe ihr Selbstvertrauen gegeben. "Ich fühle mich vorbereiteter und würde mich in der nächsten Situation zum Beispiel nicht mehr wegdrehen."
Emilia (13) ist seit einem Jahr dabei. Sie merkt, dass sie durch das Training bessere Reflexe bekommen hat und schneller in ihren Reaktionen ist. Katharina (17) ist seit zwei Jahren dabei. Auch sie fühlt sich durch das Training sicherer. Zum einen, weil sie viele gute Griffe gelernt hat. Zum Beispiel, wie man sich herausdreht, wenn man am Handgelenk festgehalten wird. Bereits geholfen habe ihr auch der Tipp aus dem Training, laut zu werden, wenn man sich bedroht oder belästigt fühlt. "Gut ist auch, in der Situation die Person zu siezen. Dadurch merken Außenstehende, dass wir uns nicht kennen und werden aufmerksam", erzählt sie.
Selbstsicher auftreten, auf Abstand gehen und die Situation verbal lösen
Selbstsicher auftreten, auf Abstand gehen und versuchen, die Situation verbal zu lösen, rät auch Martha als ersten Schritt. "Geht das nicht, dann muss ich mich auch körperlich wehren können - und das wollen die Mädchen auch." Ob das klappt, wird am Ende des Kurses in einer Prüfung abgefragt. 24 Fragen müssen beantwortet werden, darunter: In wie viel Prozent der angezeigten Fälle kennen sich Täter und Opfer? Was verstehe ich unter Notwehr und Nothilfe? Wie verhalte ich mich, wenn ich verfolgt werde?
"Das Bedürfnis nach Selbstsicherheit ist größer geworden", beobachtet Martha in seinen beinahe 20 Jahren Kurserfahrung. Nicht nur bei Mädchen. So hat er auch schon Kurse für Busfahrerinnen gegeben, aber auch für Mitarbeiter vom Roten Kreuz, die oft auf Veranstaltungen arbeiten und da allerlei Pöbeleien ausgesetzt sind. Und auch Polizistin Susanne Panchyrz findet: "Dass Mädchen sich wehren können, ist gleichbleibend wichtig." Und somit hofft sie auch, dass Alois Martha trotz seines Alters die Kurse noch lange macht. Denn momentan ist kein Nachfolger oder Nachfolgerin in Sicht.
Abschluss-Schrei macht Mut und Spaß
"2025 mache ich meine letzte Fortbildung, die gilt drei Jahre, dann höre ich auf", kündigt Martha an. Die Fortbildungen seien körperlich sehr anstrengend. "Und ich muss fitter sein als die Mädchen. Schließlich kriegst du ständig eine rein", sagt er und lacht.
Um kurz vor acht am Freitagabend ist der Kurs zu Ende. Bevor alle auseinander gehen, wird noch einmal gemeinsam geschrien. "Das können viele nicht mehr. Selbst Kindern wird oft gesagt, sie sollen leise sein", so Martha. In der Gruppe fällt es leichter. Ein kurzer Blick auf die Liste mit Brüll-Sprüchen an der Wand, ein gemeinsames Luftholen und dann wird es laut: "Nehmen Sie die Hand weg!" hallt es vielfach von den Hallenwänden wieder. Das leise "Tschüss, bis nächste Woche!" fällt dagegen kaum noch auf.