Es ist der 10. Juni 1970. Der 20-jährige Ioan Dumitru steht in der Startaufstellung der rumänischen Fußball-Nationalmannschaft. Im Spiel der Gruppe C gegen Brasilien. Als direkter Gegenspieler des Ausnahmefußballers Pelé. Der ihn anfangs verhöhnt. Dem jungen Mann mit der Nummer 15 aber nach dem 3:2-Sieg der Südamerikaner die Hand schüttelt und 30 Jahre später in einem Interview sagt, der Rumäne Ioan Dumitru sei der unbequemste Gegner seiner Karriere gewesen. Der ist heute 74 Jahre alt und in seiner Heimat selbst eine Legende.
Dumitru kennt man auch in Würzburg. Wo er im Schatten eines Sonnenschirms auf der Terrasse der Kickers-Gaststätte sitzt. Einen Tag nach dem 1:1 gegen die Slowakei, das den Rumänen, die in Würzburg ihren Basis-Standort haben, bei der Europameisterschaft Platz eins in der Gruppe E und das Achtelfinalspiel am kommenden Dienstag in München gegen die Niederlande beschert hat.
Von 1970 bis 1980 trägt Dumitru 50 Mal das Trikot der rumänischen A-Nationalmannschaft und siebenmal der Olympia-Auswahl, schießt zwölf Tore, ist Spielführer. "In einer Zeit, als es noch nicht so viele Länderspiele gab", sagt er. Und erinnert sich an Mexiko 1970. An Pelé. An Bobby Charlton. Auch gegen die englische Legende spielt er stark und verliert knapp. Mit 0:1. Damit sind die Rumänen trotz des 2:1-Sieges gegen die Tschechoslowakei raus. "Ein unglaubliches Erlebnis. Ich spielte für Rapid Bukarest. Da war es nicht selbstverständlich, nominiert zu werden."
Angst vor dem Zorn der Rapid-Fans
Rapid ist Dumitrus erster großer Klub, mit 17 debütierte er in der ersten Liga. Aber noch größer ist Steaua. "Das ist in Bukarest wie in München mit 1860 und Bayern. Die heißblütigeren Fans hatte Rapid." Und die nehmen es "ihrem" Kapitän übel, als er 1972, nach 110 Einsätzen zum Armee-Klub wechselt, auch, weil er so um Teile des Militärdienstes herum kommt. "Ich bin viele Jahre nicht mehr den direkten Weg nach Hause gelaufen, sondern einen Umweg. Das war sicherer."
Sportlich ist dies seine beste Zeit: In 212 Erstliga-Partien trifft der kleine, wendige Mittelfeldspieler 47 Mal. Trägt die Kapitänsbinde. Ist 1973 und 76 Rumäniens Fußballer des Jahres, Meister und Pokalsieger. "Ich habe alles vom Fußball bekommen, was man bekommen kann." In den Achtzigern sammelt er erste Erfahrung als (Spieler-) Trainer, unter anderem beim Universitätsclub Politechnica Timisoara, wo er ein Ingenieurs-Studium beginnt, das er später, wieder in der Heimat, vollendet. 1989 geht die Reise erst einmal nach Deutschland. Würzburg.
Wo ein Kumpel eine Kneipe führt. Ein anderer Freund ist der Sohn des rumänischen Diktators Nicolae Ceausescu. "Dem hatte ich es zu verdanken, dass ich ohne Folgen als Rapid-Kapitän nach Deutschland gehen konnte." Dumitru lernt den 2021 verstorbenen Würzburger Bürgermeister Gerhard Franke kennen, der von 1980 bis 96 Vorsitzender des Bayernligisten SV Heidingsfeld ist. Und wird dort Spielertrainer.
"Ich habe schon gewusst, dass ich hier nicht erste oder zweite Liga spielen kann." Dumitru übernimmt einen Trainerposten bei den Kickers und legt sich einen Plan zurecht: Weiterbilden, den Fußball zum Beruf machen. "Aber ich machte einen Fehler: Ich sprach zu schlecht Deutsch."
Am Rentner-Dasein hat Dumitru kein Interesse
Mit einer Trainerkarriere "in dem Land, das für mich wie ein Paradies war", wird es nichts. Stattdessen Engagements in Syrien und Saudi-Arabien. Und: Nach dem Erwerb der Uefa-Pro-Lizenz eine Rückkehr zu Rapid Bukarest – Europapokal-Teilnahme inklusive. 2001/02 coacht Dumitru die U19 seines Landes, als Gheorghe Hagi, eine weitere rumänische Fußball-Legende, Trainer des A-Nationalteams ist.
Beide verbindet Freundschaft: Für Hagis Fußball-Akademie in den USA arbeitet Dumitru, lebt seit sieben Jahren in Amerika. Wo seine 16-jährige Tochter ein Hochbegabten-Stipendium erlangt. Erst nach der EM will er nach Rumänien zurück, in seinem Heimatverein Concordia Chiajna ein Nachwuchsleistungszentrum aufbauen. Mit 74 könnte man auch in Rente gehen. "Uninteressant in Rumänien."
Dumitru mischt sich gerne ein, sagt unbequeme Dinge. Die aktuelle Nationalmannschaft und die Arbeit von Trainer Edward Iordanescu nickt er aber ab. "Ein junger Mann, dem es, obwohl er kein großer Fußballer war, gelingt, trotz ungewöhnlicher Nominierungen eine gute Atmosphäre zu schaffen." Da könne eine starke Generation heranwachsen.
Beim ersten rumänischen EM-Spiel, dem 3:0 über die Ukraine, sitzt Dumitru noch in den USA im Fernsehsessel, weint vor Glück. Das zeigt ein Handyvideo seines Schwagers Ginel Roman, selbst um die Jahrtausendwende Fußballer bei ambitionierten Klubs der Region.
Wer Europameister wird? Vielleicht Deutschland
Kurz darauf setzt sich Ioan Dumitru in den Flieger nach Deutschland. Karten besorgt Roman. Er läuft im gelben Trikot beim Fan-Marsch mit, trifft Ex-Nationaltrainer Mircea Lucescu, erfährt Respekt. "Im Stadion haben sich Fans bedankt, dass ich Torhüter Florin Nita damals in die Erste Liga geführt habe. Wie bestimmt schon 100 Spieler." Am Wochenende will Dumitru das Team treffen.
Enttäuscht ist der 74-Jährige nur, weil sich die vielen rumänischen Fußballer, denen er in den Achtzigern den Weg nach Würzburg ("damals ja nicht einfach") geöffnet hatte, nicht bei ihm gemeldet haben, als er einen Termin mit Medien aus der Heimat organisieren will. "Würzburg hat mein Leben verändert. Ich wäre ohne Deutschland nicht der Mensch, der ich heute bin. So pünktlich und zuverlässig."
Wie lange Ioan Dumitru hier bleibt, entscheidet die rumänische Nationalmannschaft. "Sie kann weit kommen, aber: Gegen Holland wird sie Probleme bekommen." Und wer wird Europameister? "Spanien ist stark. Vielleicht Deutschland. Oder Österreich. Welche Mannschaft ist heute noch klein?"