In Skradin an der dalmatischen Küste feiert an diesem Dienstag, 23. Juli, eine der schillerndsten Persönlichkeiten des Handballs seinen 90. Geburtstag. Vlado Stenzel – Spitzname "Magier", Trainer der deutschen Weltmeistermannschaft von 1978, Enfant terrible – verbringt seinen Lebensabend an der Adria. Unserem Autor ist Stenzel über Jahrzehnte hinweg immer wieder begegnet – direkt oder indirekt. In sechs dieser Begegnungen versucht er, dem Phänomen Stenzel nahezukommen.
Februar 1978: Rothenburg ob der Tauber
Ein Sonntagnachmittag in einem Wohnzimmer im 70er-Jahre-Stil. Mein 2010 verstorbener Vater steht auf einer klapprigen Wohnzimmercouch und reckt beide Hände nach oben. Eben hat die bundesdeutsche Handball-Nationalmannschaft im WM-Finale in Kopenhagen die Sowjetunion sensationell mit 20:19 besiegt.
Im Fernsehen sehe ich, neun Jahre alt, wie Menschen einen bärtigen Mann auf die Schultern gehoben und ihm eine Krone aus Pappe auf den Kopf gesetzt haben. Für meinen Vater, der im damaligen Karl-Marx-Stadt aufgewachsen ist, der die DDR ein halbes Jahr vor dem Mauerbau per S-Bahn aus Berlin verlassen hat und für den sportliche Erfolge über Vertreter aus dem Ostblock aufgrund seiner Lebensgeschichte hohen Stellenwert genießen, ist der Mann nur "der Stenzel".
Sein voller Name lautet Vlado Stenzel. Er ist zu diesem Zeitpunkt 43 Jahre alt und wurde als Trainer Jugoslawiens dreieinhalb Jahre zuvor in München schon Olympiasieger. Seit 1974 ist er für das Team der Bundesrepublik verantwortlich und in Kopenhagen wieder ganz oben. Dank einer Mischung aus Unerbittlichkeit und Gewitztheit.
Mai 1989: Elsenfeld
Der deutsche Handball-Meister wird in Play-off-Spielen ermittelt. Die Finalisten: der TV Großwallstadt aus dem unterfränkischen Landkreis Miltenberg und der TSV Milbertshofen. Im Münchner Stadtteil versucht der Mäzen Ulrich Backeshoff Spitzen-Handball in der Landeshauptstadt zu etablieren, engagiert Größen wie 1978-Weltmeister Erhard Wunderlich und den seit seiner Entlassung als Nationalcoach im Jahr 1982 sportlich glücklosen Vlado Stenzel als Trainer.
Vor dem ersten Play-off-Finalspiel, das der TV Großwallstadt im nahen Elsenfeld austrägt und für das ich eine Stehplatzkarte an der Abendkasse erwerbe, zieht allerdings nicht Stenzel die Aufmerksamkeit auf sich, sondern der in Lederhose durchs Hallenfoyer gockelnde Mäzen.
Auf dem Spielfeld gilt die Aufmerksamkeit meist dem TVG, der nach zwei Heimsiegen und einer Niederlage in München die Serie gewinnt. Bis heute ist der Großwallstadter Sieg der letzte Gewinn einer deutschen Handball-Meisterschaft durch ein unterfränkisches Team. Auch für Stenzel gibt es mit Milbertshofen noch einen nationalen Titel: den Gewinn des DHB-Pokals im Jahr 1990.
November 1995: Hagen
Ein Journalismus-Workshop im westfälischen Hagen. Wir schreiben zur Übung Porträts über verschiedene Menschen. Einer davon heißt Rudolf Rauer, genannt Rudi, und war früher Handball-Torhüter des VfL Gummersbach und Mitglied des Weltmeister-Kaders von 1978. Der Mann mit dem mächtigen Schnauzbart muss dann allerdings mehr Fragen über seinen damaligen Trainer als über sich selbst beantworten. Der Grund: Stenzel hat Rauer, der das gesamte Turnier zweiter Torwart hinter dem Großwallstadter Manfred Hofmann war, im Finale von Kopenhagen gegen die Sowjetunion völlig überraschend auf die Tribüne gesetzt.
Der Stachel sitzt augenscheinlich tief – auch noch mehr als 17 Jahre danach. Ein Satz des 2014 verstorbenen Rauer über das Verhältnis der Spieler zu Stenzel bleibt am Ende hängen: "Wir haben ihn alle gehasst!" Ein Satz, der einen merkwürdigen Kontrast zu später veröffentlichten Fernsehdokumentationen darstellt, in denen mit größerer zeitlicher Distanz ein fast freundschaftliches Verhältnis Stenzels zu einigen seiner damaligen Spieler suggeriert wird.
August 1997: Ingolstadt
Ich reise als Torwart des damaligen Handball-Bezirksoberligisten DJK Waldbüttelbrunn ins Trainingslager nach Ingolstadt. Gastgeber in einem Trainingsspiel ist der dortige MTV – ebenfalls Bezirksoberligist. Dessen Trainer: Vlado Stenzel. Der lobt mich hinterher sogar für meine Leistung.
Der ehemalige Weltmeistercoach trainiert in den 1990er Jahren eine Reihe von unterklassigen Vereinen – Bobingen, Bruchköbel oder eben den MTV Ingolstadt. Doch "der Magier" tut das engagiert, spricht beim Warmmachen oder während des Testspiels viel und gestenreich mit seinen Spielern.
Nach der Partie in der Kneipe ein anderes Bild: Während seine Mannschaft zusammenhockt und sich über Alltägliches unterhält, sitzt Stenzel ganz allein an einem Tisch und wirkt außerhalb der Halle fast ein bisschen verloren.
März 2011: Lohr am Main
Beim Handball-Bayernligisten TSV Lohr hilft mit Zdravko Zovko ein Mann im Jugendtraining mit, der als Coach von Badel Zagreb schon die Champions League gewonnen hat. Um in der Bundesliga trainieren zu können, fehlen ihm allerdings deutsche Sprachkenntnisse. Die erwirbt er ein Vierteljahr lang in der Lohrer Volkshochschule.
Um eine Geschichte über ihn zu schreiben, verabrede ich ein Treffen mit ihm in einer Lohrer Weinstube. Er teilt mir mit, dass sein kroatischer Landsmann Vlado Stenzel mitkommen werde, der habe schließlich seinen Aufenthalt in Lohr vermittelt. Zovko hat noch eine Anregung: "Wir treffen uns lieber eine halbe Stunde früher, um uns zu unterhalten. Wenn Vlado dabei ist, kommen wir eh nicht mehr zu Wort."
Nach besagter halber Stunde erscheint Stenzel, der mittlerweile in Wiesbaden lebt und als Spielervermittler tätig ist, mit Ehefrau Jana und ist fortan Hauptakteur der Konversation. Und ein durchaus unterhaltsamer. Mit fortschreitender Gesprächsdauer werden allerdings die geäußerten Bosheiten gegen den gerade ins Amt kommenden Bundestrainer Martin Heuberger immer heftiger.
Anschließend frage ich Zdravko Zovko, ob denn der 77 Jahre alte Stenzel im kroatischen Handball noch eine Rolle spiele. Er antwortet: "Nicht im aktuellen Geschäft. Aber er hat mit seiner Arbeit die Grundlagen für die heutigen Erfolge gelegt." Deshalb genieße er weiter hohe Wertschätzung.
März 2013: Aschaffenburg
In der Handball-Bundesliga kämpfen die Traditionsvereine TV Großwallstadt und VfL Gummersbach gegen den Abstieg. In der Aschaffenburger Unterfrankenhalle ist der TVG Gastgeber, in dessen Team nicht nur der heutige Nationaltorhüter Andreas Wolff steht, sondern auch die nun für die Wölfe Würzburg spielenden Patrick Schmidt und Steffen Kaufmann.
Das Duell endet 22:22. Anschließend ist Pressekonferenz. Auf dem Weg dorthin spricht Vlado Stenzel an, ob er nicht mitkommen könne. Doch vor dem Presseraum, der den Charme einer Rumpelkammer versprüht, baut sich ein Mitarbeiter einer Sicherheitsfirma auf und macht klar, dass nur Menschen mit einer Zugangsberechtigung hineindürften. Da nützt es auch nichts, dem Mann zu erklären, wer Vlado Stenzel ist. Und dass er auch einmal für einige Monate Großwallstadter Trainer war. Vorschrift ist halt Vorschrift.
Als ich weiter diskutieren will, sagt Vlado Stenzel: "Lassen Sie’s gut sein." Und geht kopfschüttelnd von dannen. Am Saisonende steigt Großwallstadt nach 45 Jahren Bundesliga ab und ist bis heute nicht wiedergekommen.
Spiele des TV Großwallstadt besucht Stenzel mittlerweile nicht mehr. Er hat im Alter von 84 Jahren im Jahr 2018 seinen Wohnsitz an die Adria verlegt, aber selbst im hohen Alter in Dalmatien sogar noch Jugendmannschaften trainiert.